Der Wohnzimmerabend in meiner WG hatte ein jähes Ende. Ich bin aus der Diskussion herausgestürmt, grusslos ins Bett gegangen und… putzmunter. An Schlaf ist nicht zu denken. Was hat mich denn so aufgeregt? frage ich mein höheres Selbst. Doch das schmollt auch.
Dann antworte ich eben selber: Ich war getriggert, und zwar schon seit einer ganzen Weile. Denn meine Mitbewohnerin weigerte sich penetrant, meiner lückenlosen Argumentation zu folgen. Dabei lag doch alles so klar auf der Hand! Ich habe mich sogar noch einmal bemüht, die Schlussfolgerung von der anderen Seite hergeleitet, habe dabei eventuell eine Nuance schneller und lauter als zuvor gesprochen und vielleicht die Fakten ein ganz klein wenig übertrieben. Ich musste ihr schliesslich klarmachen, wie ängstlich und einfach falsch ihre Sichtweise ist.
Dass sie mir dann gleich vorwirft, eng zu sein und mich unnötig aufzuregen – das ist völlig unsachlich und mal wieder typisch. Kann man mit niemandem mehr vernünftig reden? Kann sie denn nicht EINMAL die Tatsachen wahrnehmen? Jetzt liege ich im Bett und überlege, ob ich mir eigentlich die richtigen Freunde ausgesucht habe. Im Geiste packe ich die Koffer, unversöhnlich, verzweifelt… und höre sie doch, die leise, so vertraute Stimme: «Du weisst schon, dass du gerade im Film bist, oder? Aus einer Diskussion rausstürmen … ohje. Brauchst du noch Zeit oder kannst du dich auch gleich entschuldigen?» Ein aktiviertes Nervensystem braucht nach aktuellem Stand der Forschung etwa 15 Minuten, um sich wieder herunterzuregulieren.
![Alexis Faubet](/sites/default/files/inline-images/alexis-fauvet-ZMUPMypbIos-unsplash_1.jpg)
Ich brauchte bis zum nächsten Morgen. Laut der Polyvagaltheorie von Stephen Porges war mein Nervensystem im roten Bereich: Da geht nichts mehr, man deutet jede Kontaktaufnahme als Angriff und kennt nur noch Kampf, Flucht oder Totstellreflex. Das sind kluge Strategien der Natur, auch letzteres: Die Antilope, die – vom Löwen gestellt und zu Boden geworfen – auf Schockstarre schaltet, wird den Todesbiss dann weniger schmerzhaft empfinden. Und sie hat sogar eine winzige Chance, aufzuspringen und zu fliehen, falls die Löwin sich noch mal umdreht, um ihre Jungen zu rufen.
Bevor Rot mir den Fluchtimpuls eingab, war ich wohl schon eine Weile unbemerkt ins Gelb abgetaucht, ins Reich des aktivierten Sympathicus-Nervs: Hier werden Signale als Gefahr gedeutet, wir sind gespannt wie Flitzebögen und bereit, unser Adrenalin zu verspritzen wie die Schlange ihr Gift. Weit entfernt also vom entspannten Grün, das vom Vagus-Nerv bestimmt wird: Hier fühlt man sich sicher, ist empathisch und in der Lage, sozial zu interagieren, den anderen zuzuhören, Argumente aufzunehmen, Geduld zu üben und aufeinander einzugehen. Alles groovy sozusagen.
Warum beschreibe ich das so ausführlich? Weil ich immer wieder die Erfahrung mache, dass eine kontroverse Diskussion ausserhalb des grünen Bereichs Kluften verstärkt und mehr Spaltung schafft. Selbst mit besten Absichten landet man im Kampfmodus und nimmt immer nur dasselbe wahr: Das Gegenüber ist ein Feind.
Ich sage nicht, dass das immer ein Irrtum ist. Es gibt tatsächlich Menschen, die uns nichts Gutes wollen. Sie lügen uns bewusst an, provozieren zu Reaktionen, manipulieren, wollen uns auf ihre Seite ziehen oder blossstellen – aus Macht- oder anderen Egointeressen. So funktioniert in weiten Teilen unsere Gesellschaft – Tendenz steigend. Nicht ohne Grund ist in einer Welt aus Machtkampf, Konkurrenz und Profitdenken Oranggelb unser neues Normal geworden. Da hängen wir wie Marionetten an den Fäden unserer Reizreaktionsmuster, mit denen man uns schwups ins Rot katalputieren kann, der Farbe der hilflosen Wut.
Während Zorn – ebenso Flucht, Kampf oder Starre – sinnvoll sein kann, wenn wir tatsächlich bedroht werden, schenkt er uns im Marionettenmodus nur eine kurzfristige Befriedigung – und hinterher zerbrochenes Glas, angeknackte Freundschaften und Scham. Es lohnt sich also, unterscheiden zu lernen: Besteht gerade reale Gefahr – oder reagiere ich auf ein Schreckgespenst der Vergangenheit? Ist mein Gegenüber tatsächlich bösartig, übermächtig oder bodenlos dumm* – oder bin ich im Kampf mit längst vergangenen Situationen? Die Frage beantwortet uns kein höheres Wesen – kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun, das müssen wir schon selber tun. Gute Freunde und eine vertrauensvolle Umgebung helfen dabei. Und Begegnungsräume, wo wir uns als Menschen wahrnehmen und auseinandersetzen – und lernen, andere Meinungen zu ertragen, ohne uns entweder die Freundschaft zu kündigen oder zu unterwerfen.
Als allgemeine Farbstimmung dafür empfehle ich ein sattes Grün mit gelben Sprenklern der Wachsamkeit – das im Ernstfall auch einmal rote Warnsignale absenden kann, wenn das Gegenüber mich für dumm verkaufen möchte – um dann wieder ins Grün zurückzukehren. (Grün bitte keinesfalls verwechseln mit der politischen Partei, bei der ich spätestens seit den Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und anderen Wahlkampflügen nur noch rot sehe.)
Dabei helfen eine generelle Entscheidung für Freundschaft und Offenheit, eine unvoreingenommene Neugier darauf, warum andere Menschen zu so anderen Schlussfolgerungen kommen wie wir selbst, sowie drittens die Bereitschaft einzusehen, dass der Irrtum eventuell, gaaanz selten, möglicherweise auch bei uns liegen könnte.
Eine gelingende Gesprächs- und Begegnungskultur muss nicht unbedingt alle Tiefen der Neurophysiologie kennen - kennt sich aber doch grob mit aktivierten und regulierten Nervensystemen aus. Dieses Wissen gehört meines Erachtens zum politischen Widerstandsinventar: Das hilft, dem allgemeinen Spaltungstrend entgegenzuwirken und verbunden zu bleiben auf der Basis, die zählt – Menschlichkeit und Mitgefühl.
Dem stimmen Sie zu? Warten Sie nur bis zum nächsten Trigger!
- Mit dumm meine ich nicht den Mangel an Intelligenz, sondern – mit Dietrich Bonhoeffer die bewusste Weigerung, kritisch zu denken
Kommentare
Vagusnerv
Liebe Leute,
an dieser Stelle empfehle ich die Arbeit von Gopal.
Buch „ Der Vagus Schlüssel…“
Das Ehrliche Mitteilen eröffnet einen Zugang, dieser zeigt uns, warum die vielen Strategien uns letztlich doch nicht helfen und wie wir das etablierte System in uns stürzen können!
Herzlclaudia