Corona, Ukraine, Koyaanisqatsi und Frühling immer wieder

2015 waren es die Flüchtlinge, dann kam Greta Thunberg und Friday for Future, dann die Corona-Angst-Pandemie, jetzt der Ukraine-Krieg. Und was wird danach kommen im Weltgeschehen?

Es scheint, als gäbe es immer nur Platz für eine Katastrophe in der medialen Berichterstattung und damit in unsrem Erleben dessen, was in der Welt passiert.

Es ist eine eigenwillige «Auslese», denn über andere Kriege wie zum Beispiel in Syrien, im Jemen oder in Afghanistan und über vieles mehr wird seit zwei Jahren nicht mehr berichtet. Kurt Zimmermann schreibt dazu in der Weltwoche vom 17.3.22: «Zwei grosse Themen zur gleichen Zeit widersprechen der Ökonomie der Aufmerksamkeit, weil man die rare Ressource der Aufmerksamkeit nicht mit zwei parallelen Botschaften strapazieren darf. …» Es beschleicht uns ein Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit, dieser Welt nichts mehr entgegenhalten zu können. Wir leiden am «Koyaanisqatsi», einem Wort aus der Indianersprache für «Die Erde ist aus dem Gleichgewicht geraten».

Der gleichlautende bahnbrechende Dokumentarfilm hat bereits 1983 – ganz in der Tradition des Club of Rome und den Grenzen des Wachstums – aufgerüttelt und zum radikalen Umdenken eingeladen. Können wir zwischen Lethargie und Flucht, zwischen Aktivitäten wie Spenden oder Flüchtlinge beherbergen und Culture Canceling, zwischen Friedensdemos und Schicksalsergebenheit noch etwas anderes tun?

Finden wir wieder eine neue innere Richtschnur für das, was unser Leben eigentlich ausmacht und wovon in den letzten zwei Jahren kaum die Rede war: Liebe, Nähe, Begegnung, Inspiration, Würde, Freundschaft, Momente des Glücks? Und vielleicht auch die Anerkennung des Vorläufigen, des Fragilen im Leben?

Eines muss klar sein: ein Krieg gegen Menschen oder gegen ein Land ist niemals zu rechtfertigen. Im Übrigen ist aber auch ein «Krieg» gegen die Natur oder gegen ein Virus eine Hybris des Menschen, weil dieser niemals zu gewinnen ist. Also friedliche Ko-Existenz mit einem Virus – oder mit einem scheinbar verrückt gewordenen russischen Präsidenten: wie soll das gehen? Jahrzehntelang durften wir uns so sicher fühlen im stetigen Zuwachs an materiellem Wohlstand, politischer Sicherheit, scheinbaren Gewissheiten und technologisch-digitaler Entwicklung. Seit der Pandemie und dem Ukraine-Konflikt erscheint plötzlich alles wieder gefährdet und löst Trauer aus – Trauer als emotionale Reaktion auf eine existenzielle Verlusterfahrung. Das ist verständlich.

Der Weg durch die Trauer erfordert viel Bewusstsein, politisches Gespür, integrierende (nicht polarisierende) Botschaften, Verständnis für andere Positionen (ohne sie gut heissen zu müssen), eine Achtsamkeit für die Resonanz, dafür, was wir in unserem kleinen und grösseren Umfeld ausstrahlen. Und eine Hoffnung, dass wir auch auf dem schmalen Grat, auf dem wir gehen, noch immer Entscheidungsfreiheit darüber haben, wohin die Reise gehen soll.

Aufbruch aus Erstarrung und winterlichem Rückzug, bunte Krokusse nach blassgrauer Eintönigkeit, Neugierde, Vorfreude, Lust auf den Garten, Vitalität, wieder in den Strassencafés sitzen und sich begegnen. Das wäre der «normale» Frühling. Ja, die Jahreszeiten zeigen uns, dass das Leben immer wieder von vorne beginnt, in einem ewigen Zyklus von Vergehen und Werden, von Absterben und Aufblühen. Das ist auch jetzt im Frühling 2022 so – aber doch auf etwas andere Weise?

Vielleicht sind die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre und auch der letzten Wochen tatsächlich eine Inspiration, wieder einmal die Prioritäten im Leben, in den Beziehungen und Freundschaften neu zu gewichten und sich dessen bewusst zu werden, wer, wie und wozu wir sind…

Ich wünsche allen ein gutes Bei-sich-sein und ein inspiriertes Miteinander, sonnige Frühlingstage, Vertrauen in das Fragile und das Geheilte, Freude am Leben, an der Begegnung und am Fest. Und vielleicht wieder einmal die Erfahrung einer Auferstehung, nachdem wir die Krone gerichtet haben und mit Würde weitergegangen sind.

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Wolf­gang Weigand ist frei­schaf­fender Theo­loge und Autor aus Winter­thur
www.abschieds­feiern.ch  www.schritte.ch

Seit einigen Monaten schreibt er auch für das deutsche Trauerportal trauer-now.de. Es geht um die grossen Themen von Verlust, Abschied, Sterben, Tod und Loslassen.