Die so fulminant in die Schweizer Politik gestarteten Verfassungsfreunde wehren sich gegen den Zerfall. 289 von offiziell rund 25’000 Mitgliedern kamen am letzten Samstag in die Stadthalle Sursee, die zu knapp einem Viertel gefüllt war.
Trotzdem lag Spannung in der Luft, als Roland Bühlmann, der vom neu gewählten Vorstand bestimmte Ko-Präsident, die Verhandlung eröffnete. Es sei eine private Veranstaltung und Aufnahmen seien verboten, erklärte er. Der Vorstand selber liess die Versammlung zu seiner eigenen Sicherheit aber von einem sechsköpfigen Team filmen, wobei die Aufnahmen nach Ablauf der Widerspruchsfrist gelöscht würden.
Dem im April in einem umstrittenen und gerichtlich angefochtenen Verfahren neu gewählten Vorstand waren die Konflikte offenbar bewusst, die er an dieser Mitgliederversammlung aus der Welt schaffen wollte: der im letzten Jahr ausgebrochene grossflächige Streit und die heiklen Fragen zum finanziellen Gebahren.
Die Distanz zwischen Vorstand und Basis war mit Händen zu greifen: Fast 20 Meter trennten das erhöhte Podium von den vordersten Reihen. Solche Abstandsregeln gibt es nicht einmal, wenn Bundesräte sprechen oder Popstars singen.
Auch der Saal selber war, wie sich im Verlauf der Versammlung zeigte, weitgehend gespalten: hier die einen, eher frühen Mitglieder, die sich Sorgen um den Gang der Dinge machten, dort die andern, die den Führungsanspruch der Verfassungsfreunde nicht durch lästige Diskussionen um Transparenz und Redlichkeit in Frage stellen wollten.
Gleich zu Beginn wurde ein Antrag um Verschiebung der Revision der Statuten und ein Wahl- und Abstimmungsreglement auf eine ausserordentliche Mitgliederversammlung angenommen. Für die fast komplett neuen Statuten mit 16 Artikeln und x Unterpunkten hatte der Vorstand eine viertelstündige Debatte vorgesehen – 55 Sekunden pro Artikel, darunter so entscheidende wie ein neuer Vereinszweck. Im Klartext: Diskussion unerwünscht.
Erstmals richtig zur Sache ging es beim Jahresbericht der Ko-Präsidenten Marion Russek und des bereits zurückgetretenen (und nicht anwesenden) Werner Boxler. Angesichts von drei (nicht erwähnten) Rücktritten aus dem Vorstand und massiven Rückzügen von Mitgliedern musste der Rechenschaftsbericht natürlich auf den Konflikt eingehen. Die Art, wie er dies tat, ist bezeichnend.
Die Ursache des Streits sieht der Jahresbericht in den revidierten Statuten, die von den Mitgliedern in einer brieflichen Abstimmung im Herbst 2021 angenommen, dann aber vom Vorstand wieder zurückgezogen wurden, weil ernsthafte vereinsrechtliche Bedenken zur Machtfülle des Vorstandes ruchbar wurden.
Zu diesem Thema heisst es im Jahresbericht:
«Hier dürfte eines der ursächlichen Ereignisse des Zerwürfnisses, welches wir im letzten Halbjahr erlebt haben, liegen. Spaltende Kräfte bekamen Auftrieb, das Gezänk um die neuen Statuten begann und verschiedene Akteure mit unterschiedlichsten Agenden traten in der Arbeitsgruppe zur ‹Revision der Statuten› auf den Plan.»
Die tatsächliche Ursache blieb unerwähnt, ein heftiger Konflikt zwischen dem Geschäftsführer Sandro Meier und dem Mediensprecher Michael Bubendorf, dem populären Gesicht der Verfassungsfreunde.
Das ehemalige Vorstandsmitglied Markus Häni stellte dazu den Antrag, diesen Abschnitt durch folgende Formulierung zu ersetzen:
«Das letzte Halbjahr war von vorstandsinternen Konflikten rund um die Position und Rolle von Michael Bubendorf und seiner Kritik an Personen und Strukturen des Vorstands geprägt und führte letztlich zu Neuwahlen des Vorstands im April 2022.»
Knapp abgelehnt.
Auf der Sachebene ging es dabei um Folgendes: Bubendorf plädierte neben der aggressiven Kampagne zur Abstimmung über das Covid-Gesetz vom 28. November für eine gemässigte Parallel-Kampagne, um auch die Geimpften ins Boot zu holen, ohne die die Abstimmung ja nicht zu gewinnen war.
«Keinen roten Rappen» gäbe es für eine gemässigte Kampagne, soll Sandro Meier, zusammen mit Marion Russek Herr über die Konten der Verfassungsfreunde, gemäss Darstellung von Michael Bubendorf Ende September 2021 gesagt haben. Darauf sistierte Bubendorf bis zur Abstimmung seine Mitwirkung im Vorstand. Am 14. Dezember gab der Vorstand in einer bis heute umstrittenen Erklärung den Rücktritt von Bubendorf bekannt, den dieser nie gegeben haben will.
Nach Verabschiedung des Jahresberichts hielt die scheidende Ko-Präsidentin Marion Russek und Mitglied des Beirats ausserhalb der Traktandenliste eine höchst emotionale Rede. Das «sehr anstrengende Jahr» habe keine Zeit für eine langfristige Strategie gelassen, der «Restvorstand» hätte sich auch nicht dafür interessiert. (Als Initiant des Vereins und ehemaliges Vorstandsmitglied weiss ich allerdings ziemlich genau, welche Anträge zur Strategie abgelehnt wurden. Die Positionierung der Verfassungsfreunde als konstruktive, basisdemokratische politische Bewegung war unter dem Druck der Dauerkampagnen von Anfang an unerwünscht.)
Die «übrigen Vorstandsmitglieder», die sich nicht an der Geschäftsführung beteiligten, hätten vielmehr «Gerüchte gestreut» und nach der verlorenen Abstimmung vom November ein neues Feindbild gebraucht, sagte Marion Russek. Die paar, die im Vorstand die grosse Arbeit geleistet haben, hätten «nur etwas zugut: ein mega-grosses Danke!» Anstatt eine Replik auf die Vorwürfe gab es eine standing ovation – und das Blatt wendete sich zugunsten der Führung.
Die Jahresrechnung war das nächste umstrittene Traktandum. Hier prallten die Hinweise, dass nicht alle Einnahmen regulär verbucht wurden und die Beteuerung des Vorstandes aufeinander, dass alles mit rechten Dingen abgewickelt worden sei.
Geschäftsführer Sandro Meier erklärte, es seien rund zehn Millionen Franken an Spenden und Beiträgen an die Kampagnen eingegangen. Die Jahresrechnung wies jedoch «nur» einen Ertrag von knapp 8,6 Millionen aus.
Vom Vorstand unbestritten ist, dass Beiträge aus steuerlichen Gründen direkt auf Konten anderer Firmen geflossen sind, namentlich der Werbeagentur Goal AG von Alexander Segert und zwei weiteren seiner Firmen, der Blickfänger GmbH und der Sammelplatz-Schweiz GmbH.
Diese Mittel in der Grössenordnung von vermutlich 1,5 Millionen konnten nicht «in die Buchhaltung der Verfassungsfreunde integriert werden (rechtlicher Aspekt)» schreiben die für die Finanzen verantwortlichen Marion Russek und Sandro Meier in ihren Erläuterungen zur Jahresrechnung.
Und weiter: «Um eine korrekte Verwendung der an Externe getätigten Spenden zu prüfen, wurde die Revision auf die Partnerfirmen ausgeweitet, wobei keine Unregelmässigkeiten festgestellt wurden.» Im Revisionsbericht ist allerdings nur von einer «Überprüfung/Nachvollzug des Lieferantenverhältnis (sic) der Goal AG und die Kontrolle der Abrechnung» die Rede.
Konkret: Der Vorstand hat die Mitglieder der Verfassungsfreunde zu Direktspenden an Blickfänger GmbH etc. aufgerufen, die diese treuhänderisch hätte verwalten müssen. Aber anstatt Einblick in diese Konten zu erhalten – wie im Treuhandgeschäft die Norm –, musste sich der Vorstand auf «Abrechnungen» der betreffenden Firmen verlassen, für die der in eine illegale Parteispendenaffäre der AfD verwickelte Segert verantwortlich zeichnet. Die Firmen fungierten als eine Art Briefkastenkonten zugunsten der Verfassungsfreunde.
Hier sieht der ehemalige Revisionsexperte einer Grossbank, der auf Druck eines kritischen Vorstandsmitglieds Einblick in die Buchhaltung der Verfassungsfreunde erhielt, aber unter Androhung einer Konventionalstrafe von 50’000 Franken zum Schweigen verpflichtet wurde, die Möglichkeit von Kick-backs, also von versteckten Rückzahlungen. Immerhin wurde aufgrund seiner Intervention die Revision ein bisschen auf die Finanzflüsse ausserhalb der Konten der Verfassungsfreunde ausgeweitet.
Pikant: Obwohl für vier Jahre als Revisionsstelle gewählt, reichte die Conwistra GmbH nach einem Jahr bereits wieder den Rücktritt ein. Zur Begründung aufgefordert, erklärte der zuständige Revisor Christian Stephan in seltsamer Körpersprache, die Firma hätte einen grösseren Auftrag erhalten, was zu einer Neuorientierung führte. In ihrem Bericht über die Mitgliederversammlung mit dem Titel «Wir starten durch» schreibt die Führung dagegen, «nach einer beruflichen Neuorientierung musste er sein Arbeitspensum reduzieren».
Von Transparenz in diesem fragwürdigen Spendenkonstrukt wollte die Mehrheit der Mitglieder allerdings nichts wissen und erteilte dem Vorstand Décharge für das Geschäftsjahr. Damit war das heikelste Traktandum vom Tisch und der Vorstand bekam Oberwasser. Erledigt ist das Geschäft allerdings nur vereinsrechtlich. Mitglieder haben nach wie vor die Möglichkeit, gerichtlich Klage einzureichen.
Aufschlussreiches Detail aus dem Budget für das laufende Jahr: Der Vorstand rechnet offenbar mit einer Halbierung der Mitgliederzahl. Aber nicht einmal das gab Anlass zu Fragen.
Welche Themen wollen die Verfassungsfreunde in Zukunft anpacken? Es sind dies gemäss Ko-Präsident Roland Bühlmann die künstliche Intelligenz, die geplante iBorderControl, die Giacometti-Initiative (nach der dringliche Bundesgesetze dem obligatorischen Referendum unterstehen), ein gemeinsamer Event-Kalender mit anderen Bürgerrechtsbewegungen und eine Initiative zur WHO, deren Richtung allerdings noch nicht klar sei. Tatsache ist aber, dass offenbar ein Textvorschlag schon in Prüfung ist. Eine Volksinitiative zur WHO hat aber bereits «mass-voll» angekündigt. Zur Neutralität sei «noch nichts geplant», sagte Bühlmann nach Intervention mehrerer Mitglieder. Das Thema sei «heikel».
Nachdem die Traktanden nach einstündiger Verlängerung abgearbeitet waren, nutzte Bühlmann die Gunst der Stunde, mit einem Rückkommensantrag doch noch die neuen Statuten zur Behandlung zu bringen. Das Modell «Mitgliederversammlung» erhielt dabei den Vorzug gegenüber dem Modell «Delegiertenversammlung».
In beiden Varianten hat der Vorstand eine starke Stellung, indem sich die Basis nur mit Zustimmung des Vorstandes autonom organisieren und eigene Mittel äufnen kann. Ehrenamtlichkeit ist nicht mehr vorgeschrieben. Die Entschädigungen für sich selber kann der Vorstand ohne Zustimmung der Mitglieder regeln. Er wird sogar berechtigt, die Vorstandsrechte eines Mitgliedes bis zur nächsten Mitgliederversammlung zu sistieren.
Wie demokratisch die Mitgliederversammlung geführt wurde, ist diskutabel. Zur Verkürzung der schliesslich knapp fünf anstatt der geplanten zwei Stunden dauernden Veranstaltung reichte Patrick Jetzer, Chef der Wahlplattform «aufrecht Schweiz» einen Antrag auf Verbot weiterer Anträge ein, der ohne Widerspruch des anwesenden Juristen der Verfassungsfreunde (der Zuger SVP-Kantonsrat Manuel Brandenberg) gutgeheissen wurde. Wenn keine Anträge zu den traktandierten Geschäften mehr möglich sind und diese nur noch abgesegnet werden können, hätte man die Versammlung eigentlich abbrechen müssen. Dann hätten sich die Mitglieder ans Nachtessen machen können, das seit drei Stunden bereit stand.
Fazit?
- Die Einen waren erschüttert über die «bizarre» und «absurde» Veranstaltung und dem offensichtlichen Mangel an Spirit. Manche beschlossen vor Ort den Austritt.
- Andere dürften erleichtert sein, dass der Streit im Vorstand und die Unsicherheit über die Rechnungslegung formell beendet sind und wieder eigene Projekte in Angriff genommen werden können.
- Die Verfassungsfreunde werden sich mit ihrer hierarchischen Struktur als Faktor aus der schweizerischen Politik verabschieden. Sie hätte als Bewegung mit einer aktiven Basis eine starke Zukunft gehabt. Zentral gesteuert macht sie sich angreifbar und verwundbar für eine Unterwanderung, was einige schon länger vermuten.
- Die Strukturen im Vorstand sind undurchsichtig. Der starke Mann dürfte Sandro Meier sei, der letzte Verbliebene aus dem Gründungsvorstand. Er ist tatkräftig, hat aber einen Hang zu dominantem Verhalten, das nicht wenige Mitarbeiter und Kollegen aus ihren Funktionen vertrieben hat. Wichtige, aber nicht definierte Rollen spielen im weiteren die Beiräte Marion Russek, welche als gewesene «Innen- und Finanzministerin» nach wie vor die Fäden zieht und Klaus Rüdiger, der ehemalige Sekretär der SVP des Kantons St. Gallen in einer Funktion, die man als die eines «Chefideologen» bezeichnen könnte. Sandro Meier, Marion Russek und Klaus Rüdiger sind die richtungsbestimmenden Kräfte.
- Die Verfassungsfreunde werden ihre Führungsrolle in der Corona-kritischen Bewegung verlieren, in der sie sich mit hohen Beträgen Unterstützung und Abhängigkeiten erkauft haben. Ein Erbstreit zeichnet sich bereits ab.
- Vielleicht wäre auch die Erkenntnis angezeigt, dass der erstaunliche Erfolg der Verfassungsfreunde eher der Idee und der Gunst der Stunde geschuldet sind als dem vielen Geld und den über 400 Tonnen Werbematerial, mit dem die Schweiz zugepflastert wurde.
- Der Elephant im Raum bleibt die hängige gerichtliche Klage gegen die umstrittene Vorstandswahl. Der Kläger hatte angekündigt, an der Mitgliederversammlung die Aktivierung der bereits bestehenden Klageberechtigung mitzuteilen – und ist nicht erschienen.
- Ob die Kastration der Verfassungsfreunde aufgrund interner Egoismen und einer fehlenden Diskussions- und Konfliktkultur erfolgte oder von aussen induziert wurde, ist eine offene Frage. Die SVP, in der Führung bestens verankert, dürfte jedenfalls froh sein, dass bei den nächsten eidg. Wahlen keine Neuverteilung von zehn bis zwanzig Prozent der Wählerstimmen ansteht.
- Was mich persönlich erschüttert, ist das offensichtliche Desinteresse der Mehrheit der Vereinsmitglieder an Transparenz und Ehrlichkeit – genau das, was wir von der Regierung ganz besonders in der Pandemie einforderten. Die vorstandstreue Fraktion der Mitglieder verhält sich damit ganz ähnlich wie der Corona-gläubige Teil der Bevölkerung mit seinem unbedingten Vertrauen in den Bundesrat. Es zeigt sich einmal mehr, dass, wer im Widerstand verharrt, die Züge seines Gegners annimmt.
Wie gesagt: Das war’s! Ich bleibe ein Freund der Verfassung, aber kein «Verfassungsfreund».