Deep Touch statt High Tech

Wir streicheln viel öfter unsere Smartphones als unsere Liebsten. Eine Methode namens «Focusing» könnte dem ein wenig Abhilfe schaffen.

Der Dauerkontakt zwischen Mensch und Maschine hat sich in den letzten fünf Jahren durch das Smartphone flächendeckend und in allen westlichen Gesellschaftsschichten etabliert. Die Technokraten versuchen, Sinneserlebnisse in unseren medialen Alltag zu bringen. Apple etwa brachte seine Kunden dazu, ihre Geräte zu streicheln. Die Beziehung zur Maschine nimmt dadurch menschliche Züge an. Doch darin liegt auch die Gefahr, uns noch stärker auf dieses Kommunikationsmittel zu stützen. Neueste Untersuchungen zeigen, dass viele vor dem Aufstehen bereits ihr Smartphone oder Tablet streicheln, um die aktuellen Neuigkeiten oder Mails zu checken. Offenbar ist das heute attraktiver, als die Hand auszustrecken und sich körperlich und gefühlsmässig mit dem Bettpartner (falls einer da ist) zu beschäftigen.

Beinahe alle menschlichen Bedürfnisse können mittlerweile virtuell befriedigt werden. Im Schutze der Anonymität fällt es vielen leichter, Nähe aufzubauen. Die Illusion, dadurch weniger einsam oder isoliert zu sein, schwindet allerdings, wenn Kontakte aufgrund von Missverständnissen und Verletzungen aufbrechen und keine Möglichkeit gefunden wird, dieses Dilemma konstruktiv zu lösen.
Doch trügt das Netz nicht nur in seinem Sich-Nahe-Sein. Es untergräbt auch das authentische Selbst, die Person, die ich bin, wenn Fassade, Rollen und Funktionen wegfallen. Warum? Weil die virtuelle Kommunikation das Spiel mit verschiedenen, meist stark überzeichneten Rollen gestattet, aufgeheizt und beflügelt von den anderen, die sich im Kampf um Aufmerksamkeit schöner, toller und wichtiger darstellen, als sie sind. Deswegen bescheinigen führende Psychologen dem Social Web stark narzisstische Tendenzen. Und nur knapp ein Drittel der User kann sich dieser Scharade entziehen und macht diesen Tanz ums hochglanzpolierte Ich nicht mit.  

Wir machen uns gegenseitig zu Objekten unserer Vorstellungen und Absichten, Erwartungen und Bewertungen, unserer Massnahmen und Belehrungen. Darauf weist der Neurobiologe Gerald Hüther hin. Die Erfahrungen dieser Objektbeziehungen haben uns von Kindesbeinen an, über die Schule, die Ausbildungsstätten, die Universitäten so stark geprägt, dass uns kaum auffällt, wie sehr wir uns selbst inzwischen zu willfährigen Objekten der von Computerspezialisten programmierten digitalen Medien machen. Daher sieht nicht nur Hüther, sondern auch die Technik des Focusing es als zentral an, den Menschen aus dieser Objektivierung zu befreien.

Das Neue an dieser Forderung ist das Bewusstsein, dass Menschen Hilfe zur Selbsthilfe brauchen und nicht passiv therapiert werden wollen. Focusing als Verfahren der humanistischen Psychologie ist eine solche Methode. Sie lehrt, wie Veränderungs- und Entwicklungsprozesse vor sich gehen, und gibt uns die Chance, Antworten in uns selbst zu finden und sie für eine gelungene Lebensführung zu nutzen. Wir kommen uns damit nahe und erfahren, wer wir wirklich sind und wo wir sein möchten. Wir lernen besser mit schwierigen Gefühlen umzugehen und werden konfliktresistenter, weil wir unser inneres Terrain befrieden.
Für viele Menschen, denen es nicht gut geht oder die unfähig sind, stimmige Entscheidun-
gen zu fällen, ist es ungewohnt, das Offensichtlichste, Natürlichste und Einfachste zu tun: nämlich Innezuhalten und den Körper zu befragen, was eigentlich los ist. Antworten aus der Körperweisheit zu finden mag manchmal etwas «mystisch» anmuten, denn Neues, vorher nicht Bewusstes, erscheint manchmal «wie aus dem Nichts». Wer jedoch einmal erfahren hat, wie durch entspannte, freundliche Zuwendung zum Körper Antworten möglich wurden, die durch langes Nachdenken und Grübeln unerreichbar schienen, weiss, was Focusing ist.
Die Methode kann auch helfen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Durch das neugierig-freundliche Beobachten und Mitgehen, mit allem, was sich mir zeigt, kommt ein Wandungsprozess in Gang, der Antworten liefert, die vorher so nicht bekannt waren und die helfen, authentische Entscheidungen zu fällen. Oftmals sind solche Antworten mit einem Aha-Erlebnis verknüpft. Das bedeutet, Aspekte werden klar, die vielleicht schon geahnt, aber noch nicht bewusst waren. Aus dieser Langzeitbeziehung mit uns selbst ist es einfacher, die passenden Lebens- und Berufs-Entscheidungen zu treffen.    

Eveline Moor Züllig ist Koordinatorin des Internationalen Focusing Instituts für die Schweiz. Im Seminar- und Begegnungshaus Casa Civetta im Tessin führt sie zusammen mit Martin Züllig focusing-orientierte Entspannungs- und Erholungswochen für Erwachsene durch.

Der vorliegende Text ist aus ihrem Buch
Körperweisheit – wie Sie Ihre Körperintelligenz nützen. Goldegg Verlag, 2017.

www.focusingausbildung.ch
www.casacivetta.ch



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