Der Jahresanfang ist für viele ein Moment, um gute Vorsätze zu fassen und sich die Frage zu stellen, was man im neuen Jahr erreichen möchte. Gleichzeitig ist es ein Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen: Was hat mir dieses Leben geschenkt, und was habe ich der Welt zurückgegeben? Kolumne.

© Thoben Wengert / Pixelio

Das Jahr ist noch jung und voll von Verheissungen. Das Corona-Virus hat uns noch immer fest im Griff, doch wollen wir darob nicht alles andere vergessen: unsere Beziehungen, die uns wichtig sind, aber auch die Probleme, welche zu lösen uns als Menschheit auferlegt sind.

Ich verbringe nun schon 54 Jährchen auf dieser Welt. Zeit, mir Gedanken zu machen, was mir dieses Erdenleben geschenkt hat, beziehungsweise was ich der Welt mit meinem Dasein geben konnte. Das Fazit sieht durchzogen aus: Ich studierte einst Theologie mit dem Anspruch, den Himmel zu entrümpeln von patriarchalen Gottesvorstellungen, und die Bibel als Ressource auch für Frauen zu erschliessen. «Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott», lernten wir von der Theologin Mary Daly (1928–2010). Ihre Kritik an männlichen Gottesbildern und patriarchalen Religionen stellt bis heute einen zentralen Referenzpunkt feministischer Theologien dar. Inzwischen hat die theologische und kirchliche Frauenbewegung vieles erreicht; vieles bleibt jedoch auch noch zu tun!

Zurück zur Frage, was ich der Welt bisher geben konnte. Mein Engagement in der Friedensarbeit für Kolumbien hat mich geprägt. Fünf Jahre sind es jetzt her seit dem Friedensvertrag. Dabei ist offensichtlich geworden, dass Frieden mehr ist als das Schweigen der Waffen oder die Rückführung von Guerillakämpfer/innen ins zivile Leben: Es herrscht leider bis jetzt nicht viel mehr soziale Gerechtigkeit als vorher, und die Landfrage ist nach wie vor nicht geklärt: Das meiste Land ist in der Hand von Grossgrundbesitzern – eine Folge der Kolonisierung –, und indigenen Gemeinschaften wird ihr angestammtes Land durch Invasoren für Plamölplantagen und den Anbau von Coca streitig gemacht.

Und nun die Frage: Wo bin ich weiter gefragt? Bin ich zufrieden mit dem Erreichten? Was möchte ich noch anpacken?

Auch das «bedingungslose Grundeinkommen» hat mich umgetrieben und im Zusammenhang damit die Frage, was Wirtschaft denn genau ist: Das Mehren und Anhäufen von Geld und Kapital, oder nicht doch eher die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse? Unter dem Motto «Wirtschaft ist Care» widmete sich eine Gruppe von engagierten Frauen und Männern während einiger Jahre entsprechenden Themen, welche uns alle angehen. Wir streben ein Verständnis von Wirtschaften an, das sich als Sorge füreinander und für den verletzlichen gemeinsamen Lebensraum Erde versteht. Ein Wirtschaften, das sich gegen eine profitzentrierte Ökonomie richtet, die künstlich Nachfrage erzeugt, reiche Menschen und Länder immer reicher werden lässt und die Mitwelt schädigt. Auch mein Engagement für die Konzernverantwortungsinitiative hat mit diesem umfassenden Verständnis von «Care» zu tun.

Und nun die Frage: Wo bin ich weiter gefragt? Bin ich zufrieden mit dem Erreichten? Was möchte ich noch anpacken? Denn offenbar kann ich nicht anders, als so nach dem Sinn meiner Existenz zu fragen. Denn leben heisst sich zu regen. Mich in diesem Sinne zu entfalten, ist wohl auch in diesem neuen Jahr meine Aufgabe.

Eine stachelige Raupe sprach zu sich selbst: Was man ist, das ist man. Man muss sich annehmen, wie man ist, mit Haut und Haaren. Was zählt, ist das Faktische. Alles andere sind Träume. Meine Lebenserfahrung lässt keinen anderen Schluss zu: Niemand kann aus seiner Haut. Als die Raupe dies gesagt hatte, flog neben ihr ein Schmetterling auf. Es war, als ob Gott gelächelt hätte …

(Autor unbekannt)

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Esther Gisler Fischer

 

 

 

 

 

Esther Gisler Fischer ist feministische Theologin und arbeitet als Pfarrerin im Zürcher Stadtquartier Seebach. Seit ihrem Studium der Theologie, Ethnologie und Religionswissenschaften beschäftigt sie sich mit Theologien aus Frauensicht und Konzepten vom «guten Leben», die ein nachhaltiges, friedlicheres und gerechteres Zusammenleben von Menschen untereinander und der Mitwelt ermöglichen.