Der 8. Mai 1945

Wie meine Eltern das Kriegsende erlebten – und was sie mir darüber erzählten.

Meine Heimat Köln nach dem Krieg

Heute vor 78 Jahren gab es in der Familie meiner Mutter den ersten frischen Salat mit Pfannkuchen - etwas ganz Besonderes in dieser Hungerzeit. «Damit feierten wir das Kriegsende,» hatte uns meine Mutter oft erzählt. In ihrem Tagebuch las ich später etwas anderes: «Verloren? Verloren? Das kann nicht sein! Dann wären sie alle umsonst gestorben.» Alle – das waren ein Onkel, ihr erster Bräutigam, ihre jüdische Klassenkameradin, die Nachbarn von gegenüber und viele, viele vermisste Freunde.

Trotzdem – die Betonung auf das Wort «verloren» erstaunt aus heutiger Sicht. Als ginge es um ein Fussballmatch, das die heimische Mannschaft schmählichst verloren hätte. War ihr nicht klar, dass ALLE verlieren, so lange der Krieg weitergeht?

War meine Mutter ein Nazi?

Ich glaube nicht. Ich glaube, sie war jung, verbittert und kriegstraumatisiert. Das Wort Trauma hätte sie wahrscheinlich nie auf sich bezogen, wenn sie es überhaupt gekannt hätte. Aber wer weiss? Am Ende ihres Lebens hat sie ihr Augenlicht verloren, durch intensives Radiohören eine ganz neue Welt entdeckt und viele Ansichten ihres Leben relativiert.

Bei Kriegsende, 1945, war sie 23 Jahre alt und hatte einige Monate zuvor meinen Vater kennengelernt. Hand in Hand waren sie durch Trümmer und Strassen gelaufen, ohne auf Bombenalarm zu achten. Sie erzählten sich ein Märchen – das Märchen, dass sie aufeinander warten würden. Dass die Liebe überlebt und sie später etwas ganz Neues aufbauen würden. Etwas Anständiges. Anständig sein, das war der höchste Wert meiner Eltern.

Sein Kommandant hatte das einzig Vernünftige getan. Er teilte die Kriegskasse auf seine Untergebenen auf und riet ihnen, sich irgendwie durchzuschlagen.

Doch dann wurde er an eine Front geschickt, sie verloren sich für lange Zeit aus den Augen. Warum sollte er überlebt haben? Sie wartete, hoffte lange. Dann nicht mehr. 

Doch er lebte. Sein Kommandant hatte das einzig Vernünftige getan. Er löste seinen Trupp auf, teilte die Kriegskasse auf die Soldaten auf und riet ihnen, sich irgendwie durchzuschlagen. Mein Vater stahl sich Hose und Hemd von einer Wäscheleine, warf Gewehr und Uniform in einen Graben und schaffte es irgendwie, an den vielen Patrouillen vorbei immer weiter zu laufen und schliesslich nach Hause zu kommen – ausgemergelt, ausgehungert. 

Seine Mutter erkannte ihn erst nicht wieder. Dann doch. Sie riet ihm, vor dem Frühstück «noch schnell» zu den Amerikanern zu gehen und sich zu melden. Er wollte nicht, aber sie bestand darauf.

Die Amerikaner nahmen ihn als deutschen Soldaten gleich gefangen, luden ihn auf einen Lastwagen, der ihn mit vielen anderen in die berüchtigten Rheinlager – Kriegsgefangenenlager oder auch Hungerlager genannt – brachten. 

Weitere Monate tägliches Überlebenstraining. Bei meinem Vater bin ich mir sicher, er hat das Wort Trauma nicht gekannt. Er berichtete von der Gefangenschaft – wie unendlich schlimm es war. Kameraden haben sich absichtlich erschiessen lassen, weil sie den Hunger nicht mehr ertrugen. Doch fast nie haben wir zu Hause über seine direkte Kriegsbeteiligung gesprochen. Die «Kameradschaft» sei mit das schönste in seinem Leben gewesen.

Er behauptete, er habe nie auf einen Menschen geschossen. «Wie kann das sein? 6 Jahre Soldat und du hast nie auf einen Menschen geschossen?» Na schön: Die meiste Zeit war er Techniker und habe Leitungen gelegt. «Und wenn ich doch schiessen sollte, habe ich heimlich drüber gezielt.»

Ich hielt das lange für eine Schutzbehauptung. Glaubte, er wollte sich seiner Schuld als Wehrmachtssoldat nicht stellen, nicht vor mir, seiner Tochter. Doch kürzlich las ich, dass Untersuchungen im Vietnamkrieg zeigten, dass die meisten Soldaten anfangs absichtlich ungezielt oder zu hoch zielen. Denn es ist natürlich und menschlich, keinen Menschen töten zu wollen. Vielleicht also hatte er Recht, das würde mich freuen, aber ich habe es nie erfahren.

Ich würde meine Kindheit als behütet bezeichnen. Ich habe mich nicht als «Kriegsenkel» erlebt. Und doch gab es diesen Abgrund in unserer Familie, diese Schweigemauer, an die wir Kinder wie von selbst nicht anrührten. Der Schmerz unserer Eltern darüber, selbst nie eine «Jugend gehabt zu haben», wie sie oft wiederholten. Ihre unendliche Vorsicht, ja nichts falsch zu machen. Nicht aufzufallen. Was sollen die Nachbarn denken, war das Motto in meiner Familie und einer ganzen Generation. So spürten wir mehr, als es bewusst zu sehen, dass es Schichten in der Erinnerung unserer Eltern gab, die so unendlich schlimm waren, dass sie sie nie wieder berühren wollten – und die sie dennoch langsam akzeptieren mussten.

Wie wütend mein Vater über die Ausstellung der Kriegsverbrechen der Wehrmacht war! Obwohl er sich immer von Nazis distanziert hatte, liess er lange Zeit nichts auf «seine Kameraden» kommen. Er sah sie und sich selbst als Opfer. Sie hatten alles geopfert und nur getan, was sie mussten, um nicht selber umzukommen.

Mein Vater liebte übrigens die Ukraine und schwärmte zeitlebens von deren schwarzen Böden und den grosszügigen Menschen. Als er mit 20 Jahren, also kurz nach Kriegsbeginn dort Leitungen verlegte, wurden er und andere deutsche Soldaten von Bauern «als Befreier» willkommen geheissen und bewirtet. Auf dem Rückzug wurden sie aus den gleichen Höfen mit Unrat beworfen und sogar beschossen. 

«Daran konnte ich sehen, dass die Deutschen ihnen furchtbare Gewalt angetan haben müssen», sagte mein Vater. Das war das einzige Mal, dass er indirekt die «furchtbare Gewalt» der deutschen Wehrmacht einräumte. Sonst war es immer nur Hitler gewesen, der «das Volk verführt» hatte.

Es gibt keine Moral aus diesen Erinnerungen. Ausser die des Kabarettisten Uli Masuth: «Auf Krieg folgt ja doch irgendwann Frieden. Können wir den Krieg denn nicht gleich überspringen?»