Der Antiquar von Prag – und der Untergang des Abendlandes (Teil 1)

Imperien entstehen und vergehen, und in jedem Untergang steckt schon der Geisteskeim für den Neubeginn. Er, der Keim, ist der Auslöser des Untergangs! Gleich dem Samen in der reifenden, zerfallenden Frucht. Ihn zu erkennen, ist Heil für die Zukunft – ihn zu verkennen, bedeutet Wiederholung, Leid und Krieg. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 1 dieser Geschichte.

© Mia Leu

Wie ein Pfeil schiesst ihr Finger auf die Zeichnung. Langsam, von links nach rechts, fährt er über die sechs auf- und absteigenden schwarzen Bögen. Der letzte tief abfallende Bogen endet auf der Jahreszahl 2200. Dort verharrt ihr Finger und der goldene Ring widerspiegelt das Licht, der durch das offene Fenster scheinenden Sonne. Leise – fast nur ein Flüstern – liest eine weibliche Stimme: «Sie, die Weltkulturen, machen ihre Kindheit durch, ein Reifezeitalter, eine Zeit des Alterns, und sterben dann ab.» Und der Todestag unserer abendländischen gegenwärtigen Zivilisation wäre eben das Jahr 2200.

Prag, den 18. Juli 2223, in den frühen Morgenstunden. Dunkelgrün und träge fliesst die Moldau durch die Goldene Stadt der hundert Türme. So nennt man sie heute noch, obwohl es keine hundert Türme mehr gibt, nach den grossen drei Kriegen. Wobei Prag vom letzteren fast gänzlich verschont blieb. Nur das seelische Chaos, die Angst und die Not, brachten für eine lange Zeit das Leben in der Stadt zum Stillstand. Der uralte Sandstein der verbliebenen Türme, schimmert jetzt im Morgenlicht … , in goldenen Tönen. Wie schon vor 1000 Jahren, blüht Prag, nach langen wirren Zeiten, als regsame bunte Handelsstadt am Ende der mittleren Seidenstrasse liegend wieder auf.

Vor wenigen Minuten verliess Inka Bernášková das Kavárna Slavia. Mit leichten eiligen Schritten läuft sie entlang der Moldaupromenade bis zur Karlsbrücke. Dort biegt sie, die Strasse überquerend, rechts in eine schmale Gasse, die zur unteren Altstadt führt. Nach wenigen Metern verschwindet sie in einem Hauseingang, der von den schräg einfallenden Sonnenstrahlen rötlich schimmert. In raschen Schritten steigt sie die steile Treppe hinauf zum Antiquariat. Václav - Bücherdoktor steht auf dem ovalen Messingschild unter der mit Blumen verzierten Rauchglasscheibe der Eingangstür. Durch diese eingetreten, geht sie zwischen den zu beiden Seiten in die Höhe strebenden im Dunkel liegenden Bücherregale hindurch und sieht weit hinten im Raum Václav, tief über etwas gebeugt, an seiner Werkbank sitzen. Er bastelt wieder ein altes Buch zusammen, denkt sie. Hinter ihn tretend sieht sie über seine Schulter hinwegblickend eine seltsame Zeichnung und ein aufgeschlagenes Buch. Václav bemerkt sie nicht … , er sitzt da wie in Wachs gegossen.

«Verdammt noch mal», fuhr er wie von der Tarantel gestochen auf, «du erschreckst mich irgendwann noch zu Tode!», sagt er ärgerlich und fuchtelt mit seinem Skalpell durch die Luft. «Du weisst doch, dass ich schlecht höre!» Den Arm über seine Schulter hinweggestreckt verharrt Inkas Fingerspitze wie festgespiesst auf der Zeichnung. «Wer schreibt den sowas?», fragt sie, nachdem sie den Satz, der direkt unter der Zeichnung steht, vor Erstaunen flüsternd beendet hat.

«Oswald Spengler, der Untergang des Abendlandes, eine Morphologie der Weltgeschichte … , erschienen 1918», sagt Václav. «Ein einzigartiges Werk, sowas findest du nicht noch einmal!» «Morphologie der Weltgeschichte? Ich dachte das ist eine alte methodische Betrachtungsart in der Pflanzenkunde.» «Tjaaa … », erwidert Václav geniesserisch, als würde er eine Praline verspeisen. «Spengler untersuchte die Historie eben beobachtend wie Goethe und analysierte sie scharfsinnig wie Nietzsche. Das ist was ganz anderes als die akademische Geschichtsklitterung, die man über 200 Jahre lang betrieben hat.»

«War Spengler denn Hellseher, oder warum konnte er die Katastrophe voraussehen, in der wir gelandet sind?», hakt Inka nach, während sie sich zu Václav an die Werkbank setzt. «Wie gesagt, er untersuchte genau, wollte ergründen und verstehen, nicht behaupten … , vor allem beobachtete er das Wirken vergangener Impulse im Zeitenlauf.» Václav klappt den Buchdeckel zu und fährt sanft über die golden glänzenden, tief eingeprägten Schriftzeichen. «Tausendzweihundert Seiten hat dieses Werk … , einfach genial … , zu genial eben! Wie und was er in seiner Analyse zutage fördert und schlussfolgert, weist zugleich hin auf sein eigenes Denken: Es ist pure Intelligenz, aber geistlos!» Václav nimmt seine Brille ab, reibt sich die Augen und sagt wie zu sich selbst: «Zu genial eben … , tragisch, fast wie Nietzsche. Dessen Seele hat den Inneren Krieg gegen den Geist leider verloren. Er endete am Schluss schwachsinnig im Bett, und Spengler, der kommt nach Jahren seines Forschens auch nur bis zum Untergang.»

«Und übrigens, dieser Untergang ist bezeichnenderweise, noch lange nicht vorbei … », sagt Václav nachdenklich. Prüfend betrachtet er dabei die Naht am Buchsaum. «Und», er atmet mit einem Seufzer aus, «das mit dem Wirtschaften haben wir auch noch nicht begriffen. Da verhält sich der Mensch dümmer als die Bienen … » Mit seinem Kopf bedächtig schaukelnd fährt er fort: «Obwohl die ganzen Lügereien gerade darüber, wie Eiterbeulen aufbrechend an die Oberfläche kamen, ist die Ära des dritten Imperiums, die Zeit der Phrasen leider immer noch nicht überstanden. Durch die unseligen Verwirrungen mit Pandemien, Klimakollaps und Krieg, vor und zurück, wurden zwar die Giftpilze offensichtlich, doch das Myzel wucherte im Untergrund weiter.» «Giftpilze, wucherndes Myzel im Untergrund … , und wie war das noch, drittes Imperium?», fragt Inka stirnrunzelnd.

«Ja ja, du hattest schon Recht mit deiner Pflanzenkunde», sagt Václav und blickt, sein linkes Auge zukneifend auf seine Uhr, dann langsam seinen Kopf drehend Richtung Fenster, das gegenüber seiner Werkbank offenstand, … – der Klang tiefer Glockentöne ist zu hören. Er wendet sich Inka zu, und für sie deutlich spürbar, das Gespräch abschliessend: «Lass uns später bei einem Turecká káva im Slavia weitersprechen … , über Menschen, Bienen und Ameisen.

Denn die unsäglichen Irrungen in Sachen Saat, Volk und König vernebeln ebenfalls noch als zähes Relikt des ersten und zweiten Imperiums das Denken der heutigen Zeit.» «Erstes, zweites und drittes Imperium … , Menschen, Bienen und Ameisen … , na denn!» Wiederholt Inka, lacht kopfschüttelnd, umarmte ihn herzlich und sagt zum Abschied mit einem Augenzwinkern: «Ich dachte Bienen und Ameisen haben Königinnen.» «Eben,» sagt Václav.

Fortsetzung folgt am 18. Februar …

«Wenn im Unendlichen dasselbe sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe sich kräftig ineinander schließt;

Strömt Lebenslust aus allen Dingen, dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.»
(Johann Wolfgang von Goethe)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.