Der Krieg macht Kinder in Gaza zu den Hauptverdienern ihrer Familien
Die 13-jährige Marwa Al-Hilu aus Gaza-Stadt in Palästina träumte einst davon, eine echte Karate-Meisterin zu werden. Im Sommer 2023 legte Marwa in einem Karate-Trainingszentrum in Gaza den grünen Gürtel ab. Sie wollte bis zum schwarzen Gürtel trainieren und ihr Land bei internationalen Wettkämpfen vertreten. Doch der Ausbruch des israelischen Krieges gegen Gaza nahm ihr alles.
 «Nicht mehr die Fäuste einer Kämpferin, sondern die Hände einer Versorgerin.» Kinder in Gaza. Foto: Abdullah Younis
«Nicht mehr die Fäuste einer Kämpferin, sondern die Hände einer Versorgerin.» Kinder in Gaza. Foto: Abdullah Younis

Marwas Familie musste aus Gaza-Stadt nach Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens fliehen. Im Mai 2024 tötete ein israelischer Luftangriff auf eine Versammlung von Zivilisten in der Stadt ihren Vater und verletzte ihre Mutter, die schliesslich ihre Bewegungsfähigkeit verlor.

An diesem Tag nahm Marwas Leben eine Wendung, die sie sich nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Sie war nicht mehr das Mädchen in der weissen Karate-Uniform, das in der Trainingshalle trainierte. Stattdessen wurde sie zu einem Mädchen, das eine Verantwortung trug, die weit über ihr Alter hinausging.

«Vor dem Krieg habe ich meinen Traum gelebt. Ich hatte einen Trainer, Mannschaftskameraden und grosse Ambitionen. Aber jetzt ... ist alles weg. Ich denke nicht an Karate, Turniere oder sonst etwas - nur daran, wie ich etwas zu essen für den Tag finde», sagt Marwa.

Unter der Obhut ihres Onkels begann Marwa als Verkäuferin von Hülsenfrüchten und Lebensmitteln zu arbeiten.Sie steht vor einem kleinen Laden, präsentiert ihre Waren, lernt Linsen und Kichererbsen abzuwiegen und einfache Rechnungen zu machen.

«Wenn ich auf meine Hände schaue, sehe ich nicht mehr die Fäuste einer Kämpferin, sondern Hände, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Ich dachte, ich sei stark, aber der Krieg hat mich gelehrt, dass wahre Stärke nicht im Kampf auf der Karatematte liegt, sondern im Überleben», fügt sie hinzu.

Marwa arbeitet lange und wenn sie abends nach Hause kommt, kümmert sie sich um ihre verletzte Mutter undihre jüngeren Geschwister. Sie hat keine Zeit, über das nachzudenken, was sie verloren hat - der Krieg ist ihre einzige Realität geworden.

«Ich weiss nicht, ob ich jemals wieder mit Karate anfangen oder mein Land bei einem Turnier vertreten werde, wie ich es mir erträumt habe. Aber ich weiss, dass ich weitermachen muss, weil meine Familie mich braucht ... und das allein ist Grund genug», sagt sie.

Während des israelischen Krieges gegen Gaza wurden 125 Schulen und Universitäten vollständig zerstört und 336 teilweise beschädigt. Ausserdem wurden 11.738 Schüler und 750 Lehrer bei israelischen Luftangriffen getötet. (Quelle: The New Arab)

Vom Lernen zum Trümmerbeseitigen

Vor dem Krieg sass der 16-jährige Moamen Saleem in seinem kleinen Zimmer im Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt und paukte Englisch. Er träumte von einem Abschluss, der ihm die Türen zu europäischen Universitäten öffnen würde, in der Hoffnung, seine Studien fernab der Blockade und der Not in Gaza fortsetzen zu können. Sein Vater ermutigte ihn immer, versorgte ihn mit Büchern, bezahlte Online-Kurse und sagte: «Ich möchte, dass du Erfolg hast und ein besseres Leben führst als das hier». Aber als der Krieg ausbrach, war alles vorbei.

Der Krieg hat 630 000 Grund- und Sekundarschüler daran gehindert, ihre Ausbildung fortzusetzen. UN-Experten berichten, dass der Krieg mehr als 80 Prozent der Schulen in Gaza zerstört hat. (Quelle: UNHCR)

Im Dezember 2023 wurde bei einem Luftangriff auf Moamens Wohngebiet sein Vater getötet - der Mann, der die Last der Familie getragen hatte. Plötzlich war Moamen der einzige Ernährer für seine Mutter und seine fünf jüngeren Geschwister, von denen das jüngste nicht einmal vier Jahre alt war.

«An diesem Tag fühlte ich mich nicht mehr wie ein Kind. Ich hatte gelernt, um mein Leben zu verändern, aber jetzt arbeite ich nur, damit wir überleben können», sagt Moamen. Sein Englischunterricht wurde eingestellt, seine Bücher verschwanden unter den Trümmern seines Hauses, und es gab kein Internet, um seinen Online-Kursen zu folgen. Stattdessen machte er sich jeden Morgen auf den Weg in die Stadt, um einen Job zu finden.

Moamen begann, als Aufräumer zu arbeiten, ging in zerstörte Häuser, räumte Schutt weg, trug zerbrochene Möbel und fegte den Staub weg, der alles bedeckte. Das wenige Geld, das er verdiente, reichte kaum aus, um seine Familie zu ernähren.

«Ich hätte nie gedacht, dass ich so leben würde. Ich wollte reisen, ich wollte studieren - aber jetzt sammle ich Trümmer statt Diplome», sagt er.

Trotz der harten Realität hält Moamen an einem Teil seines Traums fest. An manchen Abenden, wenn alle schlafen, sitzt er in einer kleinen Ecke seines zerstörten Hauses, hält sein kaputtes Telefon in der Hand und liest noch einmal die alten Lektionen, die er sich vor dem Krieg gemerkt hat.

«Ich weiss nicht wann, aber ich werde es versuchen. Es mag schwer sein, aber ich werde nicht zulassen, dass der Krieg mir alles nimmt», fügt er hinzu.

Laut einem UNICEF-Bericht vom 20. Dezember 2024 hat der Krieg in Gaza 14.000 Kinder getötet und Tausende verletzt, ohne dass es sichere Orte für sie gibt. Dem Bericht zufolge wurden rund 1,9 Millionen Menschen - fast 9 von 10 Bewohnern des Gazastreifens - innerhalb des Landes vertrieben, die Hälfte von ihnen Kinder. (Quelle: UNICEF) Der Bericht hebt hervor, dass es den Kindern an Wasser, Nahrung, Brennstoff und Medikamenten mangelt. Sie haben ihr Zuhause, ihre Eltern und Verwandten verloren und brauchen dringend Schutz, medizinische Versorgung und Unterkünfte.

Eine grosse Studie des Gaza Community Training Center for Crisis Management, die am 12. Dezember 2024 veröffentlicht wurde, ergab, dass 96% der Kinder im Gazastreifen das Gefühl haben, dass ihr Tod unmittelbar bevorsteht, während 49% den Wunsch äusserten zu sterben. (Quelle: ReliefWeb)

Catherine Russell, Exekutivdirektorin von UNICEF, sagte: «2024 war in fast jeder Hinsicht eines der schlimmsten Jahre für Kinder in Konfliktgebieten in der Geschichte von UNICEF - sowohl was die Zahl der betroffenen Kinder als auch die Auswirkungen auf ihr Leben betrifft». (Quelle: Al Jazeera)

Nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik zählte die Bevölkerung des Gazastreifens Mitte 2024 1.067.986 Kinder unter 18 Jahren, was 47 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. (Quelle: PCBS)

Psychischer und sozialer Druck

Der Psychologe und Sozialexperte Iyad Al-Shurabji betont, dass Kinder, die ihre Hauptverdiener in Gaza verloren haben, mit grossen psychologischen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Al-Shurabji erklärt, dass diese Kinder unter extremem psychischen Druck stehen, da sie für ihr Alter unangemessene Lasten tragen müssen, was zu ständiger Angst und Stress führt. Viele haben auch mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zu kämpfen, besonders wenn sie nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse ihrer Familien zu erfüllen, was zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration führt.

Er fügt hinzu, dass Kinderarbeit zur steigenden Analphabetenrate beiträgt, da viele gezwungen sind, die Schule abzubrechen, um ihre Familien zu unterstützen. «Diejenigen, die versuchen, Arbeit und Bildung unter einen Hut zu bringen, fallen in der Schule oft aufgrund von Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten zurück», warnt er. Al-Shurabji betont, dass dieses Phänomen den Kindern Zukunftschancen raubt und ihre Fähigkeit einschränkt, sich ein besseres Leben aufzubauen.

Neben den psychologischen und pädagogischen Folgen beeinträchtigt Kinderarbeit auch das soziale Leben der Kinder, indem sie sie von Gleichaltrigen isoliert und von normalen gemeinschaftlichen Interaktionen abschneidet. Um dieser wachsenden Krise zu begegnen, fordert er dringend Massnahmen zum Schutz dieser Kinder, einschliesslich finanzieller Unterstützung für betroffene Familien, um zu verhindern, dass Kinder die Schule verlassen, um zu arbeiten. Er fordert auch die Einführung von psychologischen und sozialen Unterstützungsprogrammen, um ihnen bei der Bewältigung von Stress und Traumata zu helfen, sowie die Bereitstellung von Stipendien und flexiblen Bildungsprogrammen, die auf ihre schwierige Situation zugeschnitten sind.

Abdullah Younis

Abdullah Younis

Abdullah Younis arbeitet seit 2008 als Journalist im Gazastreifen. Er schreibt für verschiedene lokale und internationale Medien, darunter Electronic Intifada.

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