Der Sommer der Unzufriedenheit in Europa

Angesichts wirtschaftlicher Not und galoppierender Inflation gehen immer mehr Menschen in Europa auf die Strasse.

(Bild: Screenshot agrar-heute)

Am 20.6. marschierten rund 80’000 Gewerkschafter der grössten belgischen Gewerkschaften durch Brüssel, um gegen die steigenden Lebenshaltungskosten zu protestieren und höhere Löhne zu fordern. In der Stadt, in der die NATO ihren Hauptsitz hat, skandierten einige Teilnehmer auch «Gebt Geld für Gehälter aus, nicht für Waffen».

In den Niederlanden demonstrierten 40’000 Landwirte und ihre Familien gegen die Entscheidung der Regierung, den Stickstoffeinsatz drastisch zu senken. Sie fuhren mit ihren Traktoren auf wichtigen Strecken im ganzen Land und trugen Schilder mit den Aufschriften «Keine Landwirte, keine Zukunft» und «Den Haag will die Landwirte verbieten».

Die Regierung kündigte letzte Woche ihren Plan an, bis 2030 bis zu 70% des in der Landwirtschaft verwendeten Stickstoffs einzusparen, was zu einer drastischen Verringerung der zulässigen Viehbestände und des Einsatzes von Düngemitteln führen wird.

Die dramatischsten Aktionen finden jedoch im Vereinigten Königreich statt, wo die Gewerkschaft Rail Maritime and Transport Union mit 40’000 Beschäftigten, am 21., 23. und 25.6. drei Tage lang Network Rail, den nationalen Betreiber des Eisenbahnnetzes, und 13 Eisenbahnunternehmen bestreikt hat. Die Beschäftigten, die seit mindestens zehn Jahren unter einem Lohnstopp leiden, fordern Lohnerhöhungen, die der hohen Inflation angemessen sind, sowie Arbeitsplatzsicherheit.

Die Regierung von Boris Johnson widersetzt sich nicht nur diesen Forderungen, sondern ist sogar entschlossen, den Streik zu brechen. So plant die Regierung die Einführung eines Gesetzes, das es Arbeitsvermittlungsagenturen erlaubt, Unternehmen und staatlichen Betrieben während des Streiks Arbeitskräfte zuzuführen, wodurch die geltenden Arbeitsgesetze, die solche Praktiken verbieten, ausser Kraft gesetzt würden.

Was die Labour-Partei betrifft, so rief ihr Vorsitzender Keir Starmer, der ebenso neoliberal ist wie der frühere Premierminister Tony Blair, die Labour-Abgeordneten auf, sich nicht an Streikposten zu beteiligen, aber seine Anweisung wurde alsbald von mehreren Abgeordneten ignoriert, die den Streikenden ihre Solidarität anboten.

Der Bahnstreik könnte sich zu einem landesweiten Generalstreik ausweiten, da andere Gewerkschaften an ähnlichen Aktionen beteiligt sind oder diese vorbereiten. Dazu gehören die Lehrergewerkschaft und die Gewerkschaft des nationalen Gesundheitsdienstes sowie die Beschäftigten von Fluggesellschaften und Flughäfen und sogar Anwälte. Ausserdem sind die Versuche der Regierung, einen Keil zwischen die Streikenden und die Öffentlichkeit zu treiben, gescheitert, da der sinkende Lebensstandard die gesamte Bevölkerung trifft.

Dieser heraufziehende Sommer der Unzufriedenheit geht mit wachsenden politischen Problemen von Boris Johnson einher, dessen konservative Partei bei den Nachwahlen am 23.6. für zwei Parlamentssitze eine vernichtende Niederlage erlitt. Sie waren von den Tory-Abgeordneten Neil Parish (der zurücktreten musste, nachdem er sich im Unterhaus Pornos auf seinem Handy angesehen hatte) und Imran Ahmad Khan (der wegen sexueller Belästigung eines Teenagers im Gefängnis sass) geräumt worden. Das Ergebnis war eine Welle von Forderungen in der Tory-Presse, Johnson solle zurücktreten.

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Der Text stammt aus dem (kostenpflichtigen) Newsletter des Schiller-Instituts.