Der Sonntag soll den Geist der Woche bestimmen
Gott vollendete am sechsten Tag sein Werk. Wir Menschen dagegen hören nicht auf und entwickeln die Schöpfung weiter. Deshalb brauchen wir einen Tag, an dem wir es gut sein lassen, sagt der Sozialethiker und Theologe Hans Ruh im Gespräch mit dem Zeitpunkt
Zeitpunkt: Woher kommt der Sonntag, der sich heute ja über die ganze Erde verbreitet hat?
Hans Ruh: Ursprünglich kommt die Zahl sieben und die Woche mit sieben Tagen aus dem Zweistromland. Aber es gab im Altertum andere Rhythmen, zum Beispiel mit zehn Tagen. Auch Stalin wollte wieder eine Zehntagewoche einführen. Es war das einzige grössere Projekt, mit dem er scheiterte.
Hat die Kalenderhoheit mehr mit Machtausübung als mit natürlichen Rhythmen zu tun?
Im Fall von Stalin ist das eindeutig so. Er wollte einfach, dass mehr gearbeitet wird,
Ist das nicht auch so mit der Siebentagewoche, die mit dem Judentum zur Regel wurde? Sechs Tage sollst du im Schweisse deines Angesichts arbeiten, am siebten sollst du ruhen.
Das hat zunächst theologische Wurzeln. In der Genesis ist Gott nach sechs Tagen zufrieden mit seiner Arbeit und hört auf. Es ist übrigens bemerkenswert, dass er aufgehört hat. Wir Menschen hören nicht auf und entwickeln die Schöpfung weiter. Während Gott eine Grenze gesetzt hat, fahren wir fort und bauen eine ganz andere Welt. Aufschlussreich ist auch, dass im Judentum der Sabbat, der Ruhetag, der letzte Tag der Woche ist, im Christentum dagegen der Sonntag der erste.
Was ist der Hintergrund?
Das ist theologisch interessant. Bei den Römern war der Sonntag der «dies solis», der Tag der Sonne – allerdings heidnisch. Für den Theologen Karl Barth ist das Ruhegebot des Sabbats ein erstes Aufleuchten der Gnade Gottes: Die Schöpfung mündet in Ruhe, Fröhlichkeit und Feiern. Für die Christen ist der Sonntag der Tag des Herrn, sichtbar am französischen Wort «dimanche». Sie fanden offenbar, dieser Tag gehöre an den Anfang. Während das Alte Testament die Versöhnung mit Gott erst verheisst, berichtet das Neue Testament davon, dass die Liebe Gottes auf der Welt angekommen sei.
Ist das nicht eine nachträgliche Rechtfertigung dafür, den Sonntag an den Anfang der Woche zu stellen?
Das ist schwer zu sagen. Aber die Christen in Rom fanden, dass das Heil und die Liebe Gottes an den Anfang gehören. Das ist vermutlich kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung.
Der Sonntag als Neuanfang mit der Gnade Gottes?
Ja, die Liebe Gottes soll sich verwirklichen.
Der Sonntag hat also einen eindeutigen theologischen Hintergrund. Nun ist der Anteil der praktizierenden Christen auf eine kleine Minderheit gesunken. Wir leben in einer säkularen Welt, in der ein Tag des Herrn eigentlich keinen Platz mehr hat. Gibt es heute noch einen Sinn für den Sonntag?
Ja natürlich! Je weiter die Kommerzialisierung voranschreitet und je mehr die Erholung in den Dienst der Erwerbsarbeit gestellt wird, desto grösser ist im Grunde das Bedürfnis nach Spiritualität. Ich bin übrigens gestern aus Tel Aviv zurückgekehrt. An Wochentagen verstopft, sind die Autobahnen am Sabbat leer. Ich konnte in ganz Tel Aviv keine Zeitung kaufen und im Hotel gab es Pulverkaffee, den man selber anrühren musste. Mit dem Ende des Sabbats zu einer ganz bestimmten, in den Medien veröffentlichten Zeit, braust das Leben wieder los.
Was hatte das für eine Wirkung auf Sie?
Ich weiss nicht, was die Juden machen an diesem Tag. Auf mich wirkte es auch ein bisschen skurril: Pulverkaffee statt normaler Kaffee. Man hätte ja am Abend vorher Bohnen in die Maschine füllen können. Ich hätte am nächsten Tag nur den Knopf zu drücken brauchen; das hätte keine Störung der Sabbatsruhe bedeutet. Das Judentum hat einen starken legalistischen Hintergrund, Gesetze werden oft sehr strikt eingehalten, wobei es deutliche regionale Unterschiede gibt. Jerusalem mit seinen vielen Orthodoxen ist eindeutig strenger als Tel Aviv. Aber insgesamt ist ein solcher Tag eine eindeutige Zäsur: Der Alltag mit der menschlichen Geschäftigkeit kommt zum Stillstand.
Könnte man dem Sonntag eine säkulare Bedeutung geben, die anknüpft an den «Tag des Herrn»?
Der Sonntag ist der symbolische Tag, an dem andere Gesetze gelten als die vom Mensch gemachten. Er ist damit auch ein Tag der Gemeinschaft. Das ist der Grund, warum man den Sonntag nicht individualisieren und an irgendeinem beliebigen Tag begehen kann. Damit ginge eine zentrale Leistung des Sonntags verloren, gemeinsam mit anderen zweckfrei Zeit zu verbringen. Dies aufzugeben, wäre ein enormer Verlust. Natürlich muss es für gewisse Berufe Ausnahmen geben.
Hat der Sonntag überhaupt eine säkulare spirituelle Dimension?
Auch die nicht-religiöse Gesellschaft braucht einen Tag, an dem die andere Dimension eine Rolle spielt: Ich bin nicht der, der alles kann; ich bin jemand, der einmal sterben muss: Ich will mit mir ins Reine kommen. Das sind Aufgaben, die wir für den Alltag bewältigen müssen, aber nicht im Alltag lösen können.
Wie können wir einen säkularen, spirituellen Sonntag praktizieren?
Ich möchte viel mehr Orte, an denen man beten kann. Ich meine damit nicht Kirchen und ich meine auch nicht den traditionellen Gottesdienst, der für viele wohl zu aufwändig und zu formalisiert ist. Auch ich wundere mich, dass man so viel über Gott wissen und reden kann, da bleibt notgedrungen vieles formelhaft.
Wie kann man denn über Gott reden?
Ich halte die Behauptung, es gebe keinen Gott für ziemlich unwissenschaftlich. Wir wissen so wenig, dass eine solche Aussage nicht zuverlässig möglich ist. Trotzdem hat die Kirche die Aufgabe, ihre Kernaussagen neu zu formulieren, um die Menschen in einer säkularen Welt noch zu erreichen. Ein Zugang sind zum Beispiel die Geschichten von Menschen in schwierigen Situationen oder mit Nahtoderfahrungen. Mit welchem kulturellen Hintergrund auch immer: Solche Menschen erfahren Gott als Licht oder als unendliche Liebe. Am Sonntag können wir die Grammatik des Lebens neu erfahren. Wir müssen den Tag im alten Sinn mit neuen Inhalten füllen. Am siebten Tag der Schöpfung beendete Gott sein Werk «und sah, dass es gut war», wie es in der Bibel heisst.
Das heisst, dass wir auch als Menschen einmal pro Woche sagen sollten: Es ist gut.
Ja, aber wir treiben die Schöpfung weiter, bis ins Unendliche. Die Begrenzung ist deshalb ein wichtiger Aspekt des Sonntags. Alles hat ein Mass. Das führt uns zur Erkenntnis, dass es eine Struktur des Seins gibt, eine grundlegende Ordnung. Mindestens einmal pro Woche sollten wir uns darauf besinnen.
Wenn wir nicht sechs Tage im Schweisse unseres Angesichts arbeiten müssen, brauchen wir auch keinen Sonntag – wie die Naturvölker, die ohne Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit nachhaltig leben. Unsere Arbeitsethik erfordert richtiggehend einen Tag der Begrenzung. Wenn wir uns die Erde nicht untertan machen wollten, müssten wir darin auch nicht Mass halten.
Wir leben in einem Kulturkreis, der von den drei Weltreligionen aus dem Mittleren Osten bestimmt wird. Da existiert die regulative Idee des Sabbats, bzw. des Sonntags. Ihre Geschichte transportiert einen gewissen Sinn. Wir könnten die ganze Menschheit pensionieren, dann brauchen wir tatsächlich keinen Sonntag. Aber das ist vorläufig noch eine Utopie.
So schnell lässt sie sich das nicht verwirklichen. Die Frage ist: Was soll der Sonntag, ausser uns für die übrigen Tage fit zu machen?
Am Sonntag wird die Perspektive für die kommende Woche eröffnet: Friede, Freude, Achtsamkeit, Grenzen. Er soll ein Leitstern sein für die kommende Woche. Deshalb möchte ich, dass er revitalisiert wird. Wir können in dieser Hinsicht etwas von den Juden und den Moslems lernen. Ich wäre dafür, dass wir am Sonntag wieder zweimal fünf Minuten in die Knie gehen und an die andere Dimension denken.
Sie beklagten vorhin die Formalisierung der Gottesdienste. Das würde doch wieder in dieselbe Richtung gehen.
Zweimal in die Knie am Sonntag! Da ist der Mensch doch immer noch frei. Er kann es machen, wie er will. Die Gottesdienste kann und soll man immer noch reformieren. Ein Pfarrer soll nur noch predigen, wenn er etwas zu sagen hat. Unterm Strich: Die Kirche muss dem Sonntag wieder einen Sinn geben und diesen sichtbar machen.
Braucht es dazu eine kollektive Anstrengung, indem man den Sonntag wieder strengeren Regeln unterwirft?
Gewisse Regeln haben wir ja schon. Aber das ist nicht das Entscheidende. Wichtig wäre ein attraktives geistliches Angebot.
Die Kirche darf doch den Schutz des Sonntags nicht den Gewerkschaften überlassen und nur dann reagieren, wenn der Sonntag wieder einer neuen Gefährdung ausgesetzt wird. In Deutschland haben die Kirchen 2009 die sehr erfolgreiche Aktion «Mach mal Sonntag!» gestartet. In der Schweiz passiert nichts.
Die Kirche könnte schon mehr machen. Sie könnte zum Beispiel Pilgerschaften anbieten, wo man gemeinsam an einen schönen Ort geht und betet. Die Türe für Phantasie ist offen.
Wie sieht eigentlich Ihr persönlicher Sonntag aus. Befolgen Sie das, was Sie hier empfehlen?
Als Pensionierter bin ich in dieser Hinsicht in einer besonderen Situation. Ich beteilige mich an verschiedenen Cafés philos; die finden meist an Sonntagen statt. Da wird zusammen nachgedacht und diskutiert. Das sind private Kreise; es gibt aber auch ein einige öffentliche in der ganzen Schweiz. Gerne treffe ich meine Familie und Freunde. Am Sonntag mache ich auch gerne Sport, im Winter zum Beispiel Langlauf. Dann geniesse ich die Ruhe – das mache ich heute auch an den Werktagen. Und ab und zu gehe ich in die Kirche, aber selten.
Kommen wir nochmals auf die Utopie zurück, die Welt so zu gestalten, dass es keinen Sonntag mehr braucht. Sie sind ja einer der prominenten Befürworter des Grundeinkommens.
Gott hat uns die Schöpfung geschenkt. Die Frage ist nun: Wem gehört dieses Geschenk. Wir sind ja daran, die ganze Schöpfung zu kommerzialisieren, aus den Geschenken Dinge zu machen, die den Einen gehören, den Anderen nicht und aus diesem Gegensatz einen Profit zu schlagen. Ich wäre sehr dafür, das Geschenk der Schöpfung gerecht zu verteilen: Luft, Wasser, Boden und Bodenschätze. Der nachhaltige Ertrag daraus würde jedem Menschen auf diesem Planeten ein Begrüssungsgeld ermöglichen. Das ist für mich die wichtigste Begründung für das bedingungslose Grundeinkommen. Es ermöglicht jedem, angstfrei und bescheiden zu leben.
Das Grundeinkommen würden den Sonntag auf die ganze Woche verteilen und unnötig machen.
Das macht gar nichts, im Gegenteil: Der Sonntag soll den Geist des Werktags bestimmen. Wenn das erreicht ist, braucht es auch keinen Sonntag mehr.
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Hans Ruh (*1933) studierte Theologie unter Karl Barth. 1965 bis 1983 leitete er das Institut für Sozialethik des Schweiz. Evang. Kirchenbundes. 1983 bis 1998 war er als ordentlicher Professor der Universität Zürich und Direktor des dortigen Instituts für Sozialethik. Letzte Veröffentlichung: Ordnung von unten – die Demokratie neu erfinden. Versus, 2011. 208 S. Fr. 34.–/€ 24.80.
Mehr über das Verschwinden des Sonntags im Schwerpunktheft «Am siebten Tag»
Hans Ruh: Ursprünglich kommt die Zahl sieben und die Woche mit sieben Tagen aus dem Zweistromland. Aber es gab im Altertum andere Rhythmen, zum Beispiel mit zehn Tagen. Auch Stalin wollte wieder eine Zehntagewoche einführen. Es war das einzige grössere Projekt, mit dem er scheiterte.
Hat die Kalenderhoheit mehr mit Machtausübung als mit natürlichen Rhythmen zu tun?
Im Fall von Stalin ist das eindeutig so. Er wollte einfach, dass mehr gearbeitet wird,
Ist das nicht auch so mit der Siebentagewoche, die mit dem Judentum zur Regel wurde? Sechs Tage sollst du im Schweisse deines Angesichts arbeiten, am siebten sollst du ruhen.
Das hat zunächst theologische Wurzeln. In der Genesis ist Gott nach sechs Tagen zufrieden mit seiner Arbeit und hört auf. Es ist übrigens bemerkenswert, dass er aufgehört hat. Wir Menschen hören nicht auf und entwickeln die Schöpfung weiter. Während Gott eine Grenze gesetzt hat, fahren wir fort und bauen eine ganz andere Welt. Aufschlussreich ist auch, dass im Judentum der Sabbat, der Ruhetag, der letzte Tag der Woche ist, im Christentum dagegen der Sonntag der erste.
Was ist der Hintergrund?
Das ist theologisch interessant. Bei den Römern war der Sonntag der «dies solis», der Tag der Sonne – allerdings heidnisch. Für den Theologen Karl Barth ist das Ruhegebot des Sabbats ein erstes Aufleuchten der Gnade Gottes: Die Schöpfung mündet in Ruhe, Fröhlichkeit und Feiern. Für die Christen ist der Sonntag der Tag des Herrn, sichtbar am französischen Wort «dimanche». Sie fanden offenbar, dieser Tag gehöre an den Anfang. Während das Alte Testament die Versöhnung mit Gott erst verheisst, berichtet das Neue Testament davon, dass die Liebe Gottes auf der Welt angekommen sei.
Ist das nicht eine nachträgliche Rechtfertigung dafür, den Sonntag an den Anfang der Woche zu stellen?
Das ist schwer zu sagen. Aber die Christen in Rom fanden, dass das Heil und die Liebe Gottes an den Anfang gehören. Das ist vermutlich kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung.
Der Sonntag als Neuanfang mit der Gnade Gottes?
Ja, die Liebe Gottes soll sich verwirklichen.
Der Sonntag hat also einen eindeutigen theologischen Hintergrund. Nun ist der Anteil der praktizierenden Christen auf eine kleine Minderheit gesunken. Wir leben in einer säkularen Welt, in der ein Tag des Herrn eigentlich keinen Platz mehr hat. Gibt es heute noch einen Sinn für den Sonntag?
Ja natürlich! Je weiter die Kommerzialisierung voranschreitet und je mehr die Erholung in den Dienst der Erwerbsarbeit gestellt wird, desto grösser ist im Grunde das Bedürfnis nach Spiritualität. Ich bin übrigens gestern aus Tel Aviv zurückgekehrt. An Wochentagen verstopft, sind die Autobahnen am Sabbat leer. Ich konnte in ganz Tel Aviv keine Zeitung kaufen und im Hotel gab es Pulverkaffee, den man selber anrühren musste. Mit dem Ende des Sabbats zu einer ganz bestimmten, in den Medien veröffentlichten Zeit, braust das Leben wieder los.
Was hatte das für eine Wirkung auf Sie?
Ich weiss nicht, was die Juden machen an diesem Tag. Auf mich wirkte es auch ein bisschen skurril: Pulverkaffee statt normaler Kaffee. Man hätte ja am Abend vorher Bohnen in die Maschine füllen können. Ich hätte am nächsten Tag nur den Knopf zu drücken brauchen; das hätte keine Störung der Sabbatsruhe bedeutet. Das Judentum hat einen starken legalistischen Hintergrund, Gesetze werden oft sehr strikt eingehalten, wobei es deutliche regionale Unterschiede gibt. Jerusalem mit seinen vielen Orthodoxen ist eindeutig strenger als Tel Aviv. Aber insgesamt ist ein solcher Tag eine eindeutige Zäsur: Der Alltag mit der menschlichen Geschäftigkeit kommt zum Stillstand.
Könnte man dem Sonntag eine säkulare Bedeutung geben, die anknüpft an den «Tag des Herrn»?
Der Sonntag ist der symbolische Tag, an dem andere Gesetze gelten als die vom Mensch gemachten. Er ist damit auch ein Tag der Gemeinschaft. Das ist der Grund, warum man den Sonntag nicht individualisieren und an irgendeinem beliebigen Tag begehen kann. Damit ginge eine zentrale Leistung des Sonntags verloren, gemeinsam mit anderen zweckfrei Zeit zu verbringen. Dies aufzugeben, wäre ein enormer Verlust. Natürlich muss es für gewisse Berufe Ausnahmen geben.
Hat der Sonntag überhaupt eine säkulare spirituelle Dimension?
Auch die nicht-religiöse Gesellschaft braucht einen Tag, an dem die andere Dimension eine Rolle spielt: Ich bin nicht der, der alles kann; ich bin jemand, der einmal sterben muss: Ich will mit mir ins Reine kommen. Das sind Aufgaben, die wir für den Alltag bewältigen müssen, aber nicht im Alltag lösen können.
Wie können wir einen säkularen, spirituellen Sonntag praktizieren?
Ich möchte viel mehr Orte, an denen man beten kann. Ich meine damit nicht Kirchen und ich meine auch nicht den traditionellen Gottesdienst, der für viele wohl zu aufwändig und zu formalisiert ist. Auch ich wundere mich, dass man so viel über Gott wissen und reden kann, da bleibt notgedrungen vieles formelhaft.
Wie kann man denn über Gott reden?
Ich halte die Behauptung, es gebe keinen Gott für ziemlich unwissenschaftlich. Wir wissen so wenig, dass eine solche Aussage nicht zuverlässig möglich ist. Trotzdem hat die Kirche die Aufgabe, ihre Kernaussagen neu zu formulieren, um die Menschen in einer säkularen Welt noch zu erreichen. Ein Zugang sind zum Beispiel die Geschichten von Menschen in schwierigen Situationen oder mit Nahtoderfahrungen. Mit welchem kulturellen Hintergrund auch immer: Solche Menschen erfahren Gott als Licht oder als unendliche Liebe. Am Sonntag können wir die Grammatik des Lebens neu erfahren. Wir müssen den Tag im alten Sinn mit neuen Inhalten füllen. Am siebten Tag der Schöpfung beendete Gott sein Werk «und sah, dass es gut war», wie es in der Bibel heisst.
Das heisst, dass wir auch als Menschen einmal pro Woche sagen sollten: Es ist gut.
Ja, aber wir treiben die Schöpfung weiter, bis ins Unendliche. Die Begrenzung ist deshalb ein wichtiger Aspekt des Sonntags. Alles hat ein Mass. Das führt uns zur Erkenntnis, dass es eine Struktur des Seins gibt, eine grundlegende Ordnung. Mindestens einmal pro Woche sollten wir uns darauf besinnen.
Wenn wir nicht sechs Tage im Schweisse unseres Angesichts arbeiten müssen, brauchen wir auch keinen Sonntag – wie die Naturvölker, die ohne Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit nachhaltig leben. Unsere Arbeitsethik erfordert richtiggehend einen Tag der Begrenzung. Wenn wir uns die Erde nicht untertan machen wollten, müssten wir darin auch nicht Mass halten.
Wir leben in einem Kulturkreis, der von den drei Weltreligionen aus dem Mittleren Osten bestimmt wird. Da existiert die regulative Idee des Sabbats, bzw. des Sonntags. Ihre Geschichte transportiert einen gewissen Sinn. Wir könnten die ganze Menschheit pensionieren, dann brauchen wir tatsächlich keinen Sonntag. Aber das ist vorläufig noch eine Utopie.
So schnell lässt sie sich das nicht verwirklichen. Die Frage ist: Was soll der Sonntag, ausser uns für die übrigen Tage fit zu machen?
Am Sonntag wird die Perspektive für die kommende Woche eröffnet: Friede, Freude, Achtsamkeit, Grenzen. Er soll ein Leitstern sein für die kommende Woche. Deshalb möchte ich, dass er revitalisiert wird. Wir können in dieser Hinsicht etwas von den Juden und den Moslems lernen. Ich wäre dafür, dass wir am Sonntag wieder zweimal fünf Minuten in die Knie gehen und an die andere Dimension denken.
Sie beklagten vorhin die Formalisierung der Gottesdienste. Das würde doch wieder in dieselbe Richtung gehen.
Zweimal in die Knie am Sonntag! Da ist der Mensch doch immer noch frei. Er kann es machen, wie er will. Die Gottesdienste kann und soll man immer noch reformieren. Ein Pfarrer soll nur noch predigen, wenn er etwas zu sagen hat. Unterm Strich: Die Kirche muss dem Sonntag wieder einen Sinn geben und diesen sichtbar machen.
Braucht es dazu eine kollektive Anstrengung, indem man den Sonntag wieder strengeren Regeln unterwirft?
Gewisse Regeln haben wir ja schon. Aber das ist nicht das Entscheidende. Wichtig wäre ein attraktives geistliches Angebot.
Die Kirche darf doch den Schutz des Sonntags nicht den Gewerkschaften überlassen und nur dann reagieren, wenn der Sonntag wieder einer neuen Gefährdung ausgesetzt wird. In Deutschland haben die Kirchen 2009 die sehr erfolgreiche Aktion «Mach mal Sonntag!» gestartet. In der Schweiz passiert nichts.
Die Kirche könnte schon mehr machen. Sie könnte zum Beispiel Pilgerschaften anbieten, wo man gemeinsam an einen schönen Ort geht und betet. Die Türe für Phantasie ist offen.
Wie sieht eigentlich Ihr persönlicher Sonntag aus. Befolgen Sie das, was Sie hier empfehlen?
Als Pensionierter bin ich in dieser Hinsicht in einer besonderen Situation. Ich beteilige mich an verschiedenen Cafés philos; die finden meist an Sonntagen statt. Da wird zusammen nachgedacht und diskutiert. Das sind private Kreise; es gibt aber auch ein einige öffentliche in der ganzen Schweiz. Gerne treffe ich meine Familie und Freunde. Am Sonntag mache ich auch gerne Sport, im Winter zum Beispiel Langlauf. Dann geniesse ich die Ruhe – das mache ich heute auch an den Werktagen. Und ab und zu gehe ich in die Kirche, aber selten.
Kommen wir nochmals auf die Utopie zurück, die Welt so zu gestalten, dass es keinen Sonntag mehr braucht. Sie sind ja einer der prominenten Befürworter des Grundeinkommens.
Gott hat uns die Schöpfung geschenkt. Die Frage ist nun: Wem gehört dieses Geschenk. Wir sind ja daran, die ganze Schöpfung zu kommerzialisieren, aus den Geschenken Dinge zu machen, die den Einen gehören, den Anderen nicht und aus diesem Gegensatz einen Profit zu schlagen. Ich wäre sehr dafür, das Geschenk der Schöpfung gerecht zu verteilen: Luft, Wasser, Boden und Bodenschätze. Der nachhaltige Ertrag daraus würde jedem Menschen auf diesem Planeten ein Begrüssungsgeld ermöglichen. Das ist für mich die wichtigste Begründung für das bedingungslose Grundeinkommen. Es ermöglicht jedem, angstfrei und bescheiden zu leben.
Das Grundeinkommen würden den Sonntag auf die ganze Woche verteilen und unnötig machen.
Das macht gar nichts, im Gegenteil: Der Sonntag soll den Geist des Werktags bestimmen. Wenn das erreicht ist, braucht es auch keinen Sonntag mehr.
______________________
Hans Ruh (*1933) studierte Theologie unter Karl Barth. 1965 bis 1983 leitete er das Institut für Sozialethik des Schweiz. Evang. Kirchenbundes. 1983 bis 1998 war er als ordentlicher Professor der Universität Zürich und Direktor des dortigen Instituts für Sozialethik. Letzte Veröffentlichung: Ordnung von unten – die Demokratie neu erfinden. Versus, 2011. 208 S. Fr. 34.–/€ 24.80.
Mehr über das Verschwinden des Sonntags im Schwerpunktheft «Am siebten Tag»
27. Dezember 2013
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