Die heiligen drei Kühe und der 9. Februar

Der globalisierte Markt besteht aus drei heiligen Kühen. Die Kuh des unbegrenzten Kapitalverkehrs grast dort, wo es am schnellsten Milch gibt. Diese versickert dann vorzugsweise an der Wallstreet, in der City of London oder an der Zürcher Bahnhofstrasse – wo immer die unsichtbare Hand es will. Die heilige Kuh des freien Güterverkehrs weidet dort, wo die Hirten arm sind; aber ihre Milch wird verkauft, wo die Kaufkraft liegt. Das Resultat sind Butterberge im Westen und kahle Matten und Mistberge in der restlichen Welt. Weil dies keine dauerhafte Land- und Weltwirtschaft ist, darf die Kuh des freien Personenverkehrs überall äsen und so für eine gerechte Verteilung  der öden Weiden und Fladen sorgen. Das ist im Grunde die ganze Bibel dieser heiligen Dreifaltigkeit.

Wie im Neuen Testament gibt es auch im Katechismus des heiligen Marktes die Drohung des Untergangs, den zerstörerischen und gleichzeitig heilsamen Moment der Erkenntnis, bei dem der Glaube an der Realität zerschellt. Wann dieser Prozess beginnt, wissen wir nicht. Am 9. Februar hat jedenfalls eine knappe Mehrheit der Schweizer Stimmbürger bei der heiligen Kuh der Personenfreizügigkeit Verdauungsprobleme diagnostiziert und Bereitschaft signalisiert, auf ihre Segnungen zu verzichten. Irgendwie scheinen wir gemerkt zu haben, dass das Versprechen des grossen Marktes auf ewiges Wachstum selbst in der privilegierten Schweiz nicht wirklich in Erfüllung gehen will. Mehr fressen und mehr ausscheiden ist nicht Wachstum, sondern Völlerei

Der Aufschrei der Pharisäer war grell: Der deutsche Focus zeichnete eine «Rassismus-Chronologie» der fremdenfeindlichen Schweiz; «Die Schweiz sagt: Fuck the EU» schrieb die Zeit und der Spiegel titelte «Land des Geldes, Land der Angst». Vielleicht ist es eher ein «Land des Mutes» wie einer der vielen Leser kommentierte, die den Abstimmungsentscheid deutlich positiver beurteilten als die Leitartikler. Offenbar ist auch Europa gespalten in Eliten und Fussvolk.

Die Schreiber der europäischen Leitmedien hätten besser zuerst die Fakten geprüft, bevor sie ihr neustes Feindbild mit Häme und Drohungen überschütteten. Immerhin hat die Schweiz gemäss den eigenen Statistiken der EU eine mehr als dreimal höhere Zuwanderung als der EU-Durchschnitt (Grafik). Nur in den Sonderfällen und Kleinstaaten Luxemburg und Zypern ist der Bevölkerungsanteil der Ausländer noch grösser. Und wenn man die schrillen Debatten in England, Frankreich oder den Niederlanden mit denen hierzulande vergleicht, dann erscheinen die helvetischen Diskussionen nachgerade zivilisiert. Solange man den Gang der Dinge an der Urne bestimmen kann, braucht man eben nicht auf die Barrikaden zu steigen.

Die schroffe Reaktion der EU ist allerdings verständlich: Der Glaube an die Religion des grossen Marktes bröckelt auch in den eigenen Landen. Deshalb wird jetzt lauter als üblich gepredigt und deshalb müssen Abtrünnige besonders scharf bestraft werden. Nur: die Schweiz ist ein vergleichsweise kleines Problem für die EU. Zum Einen sind wir ziemlich brav, verhandeln zahm und haben erst noch mehr EU-Recht umgesetzt als manches EU-Mitglied. Zum anderen hat die EU mehr als genug eigene Probleme: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai werden voraussichtlich die zentrifugalen Kräfte gestärkt; die Schuldenkrise bedroht immer mehr auch das Kernland Frankreich und 2017 wollen die Briten über ihren Verbleib in der EU abstimmen. Das sind Sprengladungen, neben denen sich der Selbstbestimmungsanspruch der Schweiz wie ein Rinderfurz ausmacht. Aber offenbar ist er laut genug, die heiligen Kühe in Aufruhr zu versetzen.

Natürlich muss jetzt auch die Schweiz in Aufruhr geraten. Vor allem muss die Migration als Volkssorge ernst genommen, als Wahlhelfer der SVP weggenommen und endlich parteifrei und sachlich über die Fragen diskutiert werden, die sich dahinter verbergen: Wachstum und Gerechtigkeit. Wir werden nicht darum herumkommen, uns von der Wachstumsideologie und ihren heiligen Kühen zu emanzipieren und uns dezidiert für internationale Wirtschaftsgerechtigkeit einzusetzen. Wenn die Länder dieser Erde ihre Ressourcen nicht selber und demokratisch verwalten können, wird die Not der Migranten den letzten Winkel der Welt erreichen und sie entweder in eine Kolonie der Entwurzelten oder in Reichen- und Armen-Ghettos verwandeln.

Wenn sie geduldig ist und den ersten Sturm der Entrüstung aushält, braucht sich die Schweiz vor den Verhandlungen mit der EU nicht zu fürchten. Es wird ihr gehen wie allen, die Irrlehren in Frage stellten: zuerst verfemt und bekämpft, dann geduldet und schliesslich bewundert. Die Schweiz hat viele Freunde und Bewunderer in Europa, nicht unter den Regierungen, aber an der Basis, wo man sich nach mehr Demokratie sehnt, weil man spürt, dass kein Weg an ihr vorbei führt. Denn grosse Aufgaben mit schmerzlichen Lösungen, wie sie die Entzauberung des Wachstums fordert, lassen sich nur mit echten Mehrheiten umsetzen.
12. Februar 2014
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