Die Hybris des Wertewestens
Wir wähnen uns auf der Seite des Guten und liefern Unschuldige ans Messer. Und indoktrinieren unsere Kinder.
«Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung!», rief der Elfjährige freudestrahlend seiner Mutter entgegen, als er von der Schule nach Hause kam. Es war anfangs dieser Woche. Meine Freundin strahlte weniger, als sie es mir erzählte. Sie entgegnete ihrem Sohn nicht, hörte nur zu, was ihm die Lehrer eingetrichtert hatten.
Was wäre passiert, wenn Claudia, so heisst die Freundin, ihrem Sohn Gegenargumente aufgetischt hätte? Hätte sie ihn überzeugen können oder hätte sie ihn vielleicht in einen Loyalitätskonflikt gestürzt? Schule gegen Elternhaus.
Zudem: Sind unsere Überzeugungen – nicht nur jene von Kindern – überhaupt zugänglich für Argumente? Bestehen unsere Überzeugungen wirklich aus Argumenten oder sind es Haltungen und Vorlieben, die wir noch schnell an ein paar Gründen festzurren – wie Fahnen an Stangen, die, ohne richtige Bodenverankerung, schräg in der Landschaft stehen?
Die Coronakrise hatte es deutlich gemacht: Keine Statistik, keine Datenleaks von Pharmafirmen über frühzeitig abgebrochene mRNA-Studien konnten Impfwillige davon überzeugen, dass die «Impfung» unnötig und mehr Schaden als Nutzen anrichtet.
Wir Westler leben nicht im Zeitalter der Aufklärung. Und sind doch der festen Überzeugung, dass wir das Mittelalter, das die Welt irrational in Gut und Böse unterteilte, überwunden haben.
Durch unsere «westlichen Werte», also Demokratie plus Gerichtsbarkeit und der UNO-Charta, wähnen wir uns allen anderen Völkern überlegen. Und jenen Völkern verbunden, die ebenfalls dem «Wertewesten» zugehörig sind. Zum Beispiel Israel.
Doch der moralische Fortschritt seit der Renaissance ist nur ein scheinbarer. Wir lachen darüber, dass das Mittelalter Hexen ins Wasser warf, um ihre Schuld oder Unschuld festzustellen. Und wir? Wir stellen uns voreilig hinter Staaten wie den USA oder Israel oder der Ukraine, die nur dem Buchstaben nach demokratisch sind, ohne zu überprüfen, ob sie handeln, wie sie behaupten.
Urteile wie «terroristische Organisation» und «Antisemitismus» lassen das Blut in unseren Adern gefrieren und machen uns zu willenlosen Vollstreckern der Mächtigen. Hinterfragen? Recherchieren, ob Anschuldigungen wie terroristische Organisation oder Antisemitismus gerechtfertigt sind? Fehlanzeige. Mutlos lassen wir die Arme sinken. Geblendet lassen wir uns von notorischen Worten unsere Handlungen diktieren.
Anders gesagt: Wir glauben an Hexen und Hexenverbrennungen.
Denn in unserer narzisstischen Hybris wähnen wir uns in einer durch unendlich viel Propagandageld hochgepumpten Dichotomie immer auf der Seite des Guten.
Wie Masken binden wir Westler uns den Humanismus um. Unsere Leiber aber bestehen aus hässlichen Schläuchen, durch die Erdöl und Finanzderivate gepumpt werden. Die Palästinenser opfern wir, weil sie unserem Profitstreben, einem «freien», das heisst von arabischen, russischen oder chinesischen Machtinteressen befreiten Handelsstrasse durch die arabische Halbinsel, im Wege stehen. Wir opfern sie und glauben, eine Glanzleistung für den Humanismus und gegen den Antisemitismus vollbracht zu haben. Dabei haben wir die Träume des Kapitals vollstreckt.
Die meisten Menschen sehen nur die Maske des Humanismus – wie Truman Burbank im Film «Die Truman Show» aus dem Jahre 1998. Er ist, ohne es zu wissen, Schauspieler in einer gigantischen Blase, in der sogar das Wetter und der Tagesablauf gefaket ist. Gegen Ende des Films merkt Truman, wie ihm geschieht. Wir im echten Leben merken selten, wie uns gespielt wird.
Wie aber der Dichotomie von Gut und Böse entrinnen? Indem man zum Beispiel beide Geschichten erzählt. Die von der Gründung des Staates Israels. Und die von der Vertreibung der Palästinenser durch eben diesen Staat. Indem man gleiche Massstäbe anwendet: eines durch Kampfhandlungen getötetes Kind ist immer ein ermordetes Kind ist. Und nicht einmal ein massakriertes Kind und einmal ein junger Schutzschild, der im gerechten Kampf starb.
Ich habe beobachtet, wie viele Lehrer in den Konflikten der letzten Jahre Stellung bezogen haben im Sinne des Wertewestens: Pro Coronapanik, pro Ukraine, pro Israel.
Bildung im Sinne der Aufklärung ist das nicht. Es ist Indoktrination. Es ist die Einteilung der Welt in Gut und Böse, ohne Aufdeckung von Geschichte und Machtverhältnissen.
Ich bin selbst Lehrerin. Und ich weigere mich sogar, meine Schüler für den Umweltschutz zu mobilisieren. Natürlich werfe ich mit den Kindern Abfall in die bereitstehenden Eimer. Aber bei Reklameschildern des Umweltschutzes, die suggerieren, dass wir hier in der Schweiz alles sauber aufräumen können, kommen mir unweigerlich Bilder von plastikverseuchten Slums im Globalen Süden in den Sinn. Dorthin verschieben wir das PET in Wirklichkeit. Das wäre die ganze Geschichte. Oder wenigstens ein Teil davon.
Die meisten Kinder sind mit diesen grossen «Wahrheiten» überfordert. Deshalb: Indoktrinieren wir sie nicht mit unseren Halbwahrheiten. Und schütten wir sie auch nicht mit unseren Gegenargumenten zu. Hören wir ihnen zu. Indem wir ihnen ohne Widerspruch zuhören, erfahren sie, was Meinungsfreiheit ist. So wie der Sohn meiner Freundin Claudia.
von:
Kommentare
Angriff ist keine Selbstverteidigung
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Einmal mehr, ein sehr…
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