Die Legende vom vierten König

In einem Traumbild erschien den schlafenden Hirten ein Engel und verkündete die Geburt des Jesus Christus. Die drei Könige, auch Weisen aus dem Morgenland genannt, lasen aus der Sprache der Sterne, dass der König der Welt geboren worden war. Zweitausend Jahre später erscheint die Legende vom vierten König. Wer war dieser vierte König – was suchte er, was hatte er verloren und vergessen? Und vor allem, was fand er am Ende seines Weges?

Innenraum der Kathedrale der Heiligen Maria (La Seu) in der Balearischen Hafenstadt Palma de Mallorca / © Mia Leu

In den Evangelien wird uns von einer zweifachen Verkündigung der Geburt des Jesus Christus berichtet. In bildhafter Weise wird damit auf zwei Arten früherer menschlicher Geisterkenntnis verwiesen: Bei den Hirten auf eine hellseherische Kraft des Herzens. Bei den drei Königen oder Weisen aus dem Morgenland auf die alte Wissenschaft der Sternenkunde. Zweitausend Jahre später schreibt der 1908 in Ostrowo, in der polnischen Provinz Posen, geborene Schriftsteller Edzard Schaper die Legende vom vierten König. Ein Gleichnis von seltener Eindringlichkeit und Aktualität. Liebevoll und humoristisch im Detail. Ein Stück zeitlose Prosa, die die Weisheit dieses grossen Erzählers zum Ausdruck bringt. Diese Legende ist wie eine Kathedrale und jeder Satz verhält sich zum Ganzen wie die kleinen Glasscheiben einer Fensterrose – Schapers Geisteslicht strahlt hindurch und erhellt das Innere. 

Wir haben drei, die christliche Entwicklungsgeschichte beschreibende Feste: Das Weihnachtsfest, das Osterfest und das Pfingstfest. Sie bringen in verschiedener Weise den Menschen in ein Verhältnis zu demjenigen, worin die esoterisch-christliche Entwicklung den Sinn des ganzen Erdengeschehens sieht. Sie verweisen damit auf die im Menschen innewohnenden, unterschiedlichen Seelenkräfte. Das Weihnachtsfest appelliert am stärksten an die Gefühls- oder Empfindungsnatur des Menschen – ein «Herzens-Fest». Das Osterfest fordert den Menschen auf, sich verstandesmässig mit dem Mysterium von Golgatha, sprich des Hereindringens einer übersinnlichen Wesenheit in die menschliche Entwicklung, auseinanderzusetzen – ein «Erkenntnis-Fest». Das Dritte, das Pfingstfest, das sozusagen am unpopulärsten ist, stellt ein besonders Verhältnis her, zwischen dem menschlichen Willen und der nichtsinnlichen, beziehungsweise geistigen Welt, der das Christus-Wesen angehört. Das Pfingstfest ist ein «Bewusstseins-Willens-Fest». Durch alle drei wird anschaulich gemacht, was ich als christliches Geheimnis bezeichne.

Auf die Botschaft von Christi Geburt macht sich ein kleiner König, fast noch ein Kind, aus seiner nördlichen Heimat auf, um dem kommenden König «dem grössten aller Zeiten und Zonen», seine Geschenke zu überbringen. «Er überlegt lange, was er wohl mitnehmen könnte, dass seine Satteltaschen es noch zu fassen vermöchten und was die Güter und den Fleiss seines Landes ins rechte Licht setzen. Die Reiche dieser Welt, dachte er bei sich, beurteilt ein weiser Mann stets nach der Tugend und dem Fleiss ihrer Frauen. Also nahm er etliche Rollen vom schönsten, zartesten Linnen mit, das die Frauen seines Landes aus dem dort gewachsenen Flachs gewebt hatten. Dazu packte er etliche der schönsten, edelsten Pelze ein, die seine Jäger in den Wintern erlegt und weich wie Sammet und Sämisch gegerbt hatten. Dann meint der König, sieht jedermann, geschweige dieses allweise Kind, dass mein Volk auch im Winter nicht auf der faulen Haut liegt, obschon es auf unseren grossen Öfen dann bei Kwas und Gurken wie im Himmel ist.»

Dazu nahm der kleine König noch ein Ledersäcklein Goldkörnchen, geschürft aus dem Sand der weiten Flusstäler und ein Säcklein Edelsteinen, aus den Bergen seines Landes mit. «Und schliesslich, mehr der Frauenklugheit gehorchend, von der er gehört hatte, sie sei das Einzige, was die Welt am Saume halte, wenn die Weisheit der Könige zu Ende sei, liess er sich von seiner Mutter noch ein kleines Krüglein Honig hinzutun, den die samtpelzigen, runden Bienchen in den Linden Russlands gesammelt. Kinder, welcher Art sie auch seien, hatte die Mutter gesagt, brauchten diesen Nektar. Und sei das Kind, das geboren werden sollte, der alten Verheissung nach auch vom Himmel gekommen, so werde es der Honig einer russischen Linde noch am ehesten an seine bessere Heimat erinnern.»

Auf seinem langen Weg, verschenkt er all seine Gaben an die Bedürftigen. «Ach du kleiner Schneck», sagte der kleine König, als er ein nacktes Kindlein in den Armen einer jungen Bettlerin sah. «Welcher Liederjan auch dein Vater gewesen ist, der dir nicht mehr als die dünne Haut auf diese Welt mitgegeben hat – so lasse ich dich nicht!» Und er ging hin, packte eine seiner Satteltaschen auf, entnahm ihr die letzte Rolle des heimatlichen Linnens, um das Kindlein zu wickeln. Er nahm Abschied von der Bettlerin und im Davonreiten rief sie ihm mit leiser Stimme nach: «In meinem Land solltest du der König sein. Aber ich gelte ja gar nichts, und deshalb kann ich dich nur zum König über mein Herz machen. Das aber tue ich sicher, von dieser Stunde an.»

Er verlor viel Zeit – dreissig Jahre vergingen – und er schien sein Ziel aus den Augen verloren und endlich ganz vergessen zu haben. «Er stutzte, er schwankte – aber dann schritt er gebeugt und keuchend den Abhang hinauf. Dies … waren die letzten Schritte, das fühlte er, und vor dreissig Jahren hatte er die ersten gemacht. Alle zum gleichen Ziel. Kam er zu spät? Kam er auch jetzt wieder zu spät?» Er blickte hoch und sah auf dem Hügel drei Kreuze stehen. Der Schweiss rann ihm über seine Stirn und je näher er kam, desto deutlicher und inniger sah er den gekrönten König aller Zeiten und Zonen. «Mit einem Mal blieb er stehen, und seine Recht griff rasch zur Brust nach dem Herzen hin, das einen grausamen Stich empfangen zu haben schien – einen Augenblick empfand er die beseligende vollkommene Stille, in welcher der Schlag seines Herzens aussetzte, … ich habe nichts mehr von allem, was ich dir hatte mitbringen wollen, dachte der kleine König beschämt und gequält. Das Gold, die Edelsteine, das Linnen, die Pelzchen und selbst den Honig, den die Mutter mir in das Krüglein gefüllt – alles ist hin und vertan, verzeih, Herr!»

Doch da, als es vor seinem Blick schon dunkelte, fiel ihm das Herz der Bettlerin ein, das sie ihm als Königreich geschenkt hatte. «Er dachte an sein eigenes Herz: das Einzige, was er noch zu verschenken hatte. Und in das Polster eines wilden Thymians hineinsinkend, das sich zwischen modernden Gebeinen ausbreitete und seinen Duft verströmte, flüsterten seine Lippen, ohne dass er es da noch wusste: «Aber mein Herz, Herr, Herr, mein Herz … und ihr Herz … Unsere Herzen, nimmst du sie an?»

Die Legende vom vierten König, die dritte Art der Verkündigung: Für uns, zweitausend Jahre später – für jene die Augen haben, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Eine Legende, die im Sinne des Pfingstfestes uns bewusstwerden lassen kann, was wir hoffentlich, während dem Leben und nicht erst am Ende unseres Weges zu erkennen im Stande sind. In diesem Sinne wünsche ich der Zeitpunkt-Redaktion und ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein gesundes, zufriedenes und erkenntnisreiches neues Jahr – von Herzen.  

Über Edzard Schaper, von Andreas Beers, im Zeitpunkt bereits erschienen: Das Christuskind aus den grossen Wäldern

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Was hast du verschenkt?» Fragte der kleine König, «und wie bekommst du heute noch wiedergeschenkt?» – «Ich habe vor beinahe dreißig Jahren mein Herz verschenkt…» (Aus: Die Legende vom vierten König, 2000 Patmos Verlagshaus GmbH. Edzard Schaper, geboren 1908 in Ostrowo, Polen, gestorben 1984 in Bern, Schweiz)