Die Neutralität der Schweiz hatte stets ein Janus-Gesicht

Wie finden wir Wege zu Fairness im Völkerrecht und welche Rolle kann die Neutralität der Schweiz dabei spielen?

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«Neutralität» ist ein rechtlicher und ein politischer Begriff: Rechtlich verankert ist sie im Haager Neutralitätsrecht, ein Abkommen aus dem Jahr 1907: Neutrale Staaten beteiligen sich weder an den kriegerischen Konflikten anderer Staaten noch beliefern sie diese mit Waffen. Es kommen weitere Bestimmungen dazu, welche u.a. die Hilfe an die Opfer von kriegführenden Staaten betreffen.

Das Schweizerische Departement für Aussenwirtschaft erklärt: «Die dauernde Neutralität ist ein Grundsatz der schweizerischen Aussenpolitik. Sie trägt bei zum Frieden und zur Sicherheit in Europa und jenseits der Grenzen Europas. Sie dient der Sicherung der Unabhängigkeit unseres Landes und der Unverletzlichkeit des Staatsgebiets. In Übereinstimmung mit dem Neutralitätsrecht nimmt die Schweiz nicht an Kriegen zwischen anderen Staaten teil.»

Laut Bundesverfassung treffen der Bundesrat und die Bundesversammlung Massnahmen zur Wahrung der Neutralität der Schweiz. Die Neutralität der Schweiz wurde weder im Zweckartikel noch in den aussenpolitischen Grundsätzen verankert, denn sie ist «nur» ein Mittel zum Zweck. Politische Neutralität ist also das, was unser Bundesrat und das Parlament darunter verstehen. Und da hat sich Vieles in letzter Zeit verändert: Bundesrat und Parlament begannen, die Wirtschaftssanktionen der NATO bzw. der USA mitzutragen, wenn auch eher klammheimlich. Inzwischen sind wir mitten in einem Zeitenumbruch, der zum Nachdenken zwingt.

Ein grandioser Neutralitäts-Salat

Im Ukraine-Konflikt hat Ignazio Cassis, zusammen mit den Bundesrätinnen Karin Keller Suter und Simonetta Somaruga, in den letzten Wochen die politische Neutralität der Schweiz zu Grabe getragen: Die Schweiz hat sich offen gegen Russland und hinter die Ukraine gestellt, und es wurde lauthals verkündet hat, dass die Schweiz die Sanktionen der EU und der NATO mitträgt. Samuel Tanner hat dazu in der NZZ (7.4.22) einen Artikel verfasst mit dem treffenden Titel: «‹Ich persönlich› oder wie die Bundesräte mit Einzelaktionen den Bundesrat schwächen».

So stellen sich zahlreiche Fragen: Wurde die Angelegenheit vorher im Bundesrat abgesprochen oder ist Cassis dem Druck der vorpreschenden Karin Keller Suter gefolgt? Handelten und redeten die Damen nach ihrem persönlichen Belieben und Geschmack? Immerhin ist Cassis als Aussenminister befugt, in dieser für die Schweiz so wichtigen Sache offiziell zu reden. Eine ausreichende Begründung für den fundamentalen Kurswechsel jedoch gab er nicht. Schwindet da am Ende der Sinn für formelle Amtsrollen?

Eine integrale bewaffnete Neutralität gegen eine zeitgemässe aktive Neutralität?

Altbundesrat Blocher lanciert vermutlich eine Initiative für eine integrale bewaffnete Neutralität. Doch wenn er stur auf der alten Neutralität bzw. der engen rechtlichen Neutralitätsdefinition beharrt, treibt er auf diese Weise vermutlich viele Bürger:innen in die Arme der Neutralitätsgegner und riskiert so eine Ablehnung und damit die Liquidierung der Neutralitätspolitik.

Neutralität kann allerdings auch nicht das sein, was Altbundesrätin Michele Calmy-Rey mit ihrem Konzept der aktiven Neutralität vertritt: Sie schlägt in ihrem Interview im Bund (12.4.22) vor, dass die Schweiz die Sanktionen der EU, der USA und der NATO aktiv mittragen soll – eine Politik, welche die einstige Aussenministerin bereits mit der Anerkennung vom Kosovo eingeleitet hat. Konkret aber heisst das: Die Schweiz übernimmt die Weltsicht der westlichen Grossmächte und trägt damit fraglos auch die teils üblen Praktiken des Westblocks mit – samt kriegerischen Interventionen, Völkerrechtsbrüchen und Regime-Change-Aktivitäten – Lybien, Afghanistan, der zweite Irak-Krieg oder das bombardierte Serbien lassen grüssen.

Mit der Neutralität à la MCR gibt die Schweiz gleichzeitig zwei wichtige Aufgaben auf: Zum einen das hohe Ansehen des IKRK und seine bislang einzigartigen Einsätze in Krisengebieten, die denn doch für den guten Ruf der Schweiz sorgten. Zum andern die vornehmsten und wichtigsten Aufgaben, die ein neutraler Kleinstaat wie die Schweiz leisten kann: jene der Konfliktvermittlung bzw. der guten Dienste! Denn Neutralität ist das, was von den Konfliktparteien als solche wahrgenommen wird. Beispielsweise wurde der Schweizer Staatssekretärin Livia Leu im Iran die Vertretung der USA entzogen, weil die Schweiz die von den USA diktierten Sanktionen mitgemacht hat. Dank viel Diplomatie hat die Schweiz später ihr Mandat – wenn auch reduziert – wieder erhalten. Doch genug der Kritik an der alten Politik-Garde.

Kaugummi-Neutralitäten – viele Parteien köcheln derzeit ihr eigenes Neutralitätskonzept

  • Die Burkhart-Pfister-Doktrin: Thierry Burkhart (FDP) und Gerhard Pfister (Die Mitte) schlagen im Bund (30.4.22) ein Neutralitätskonzept vor, das sich an drei Komponenten orientiert: an der Geographie, am Wertekompass und am Völkerrecht. Ausgedeutscht: Je weiter weg ein Konflikt ist, desto eher kann die Schweiz Partei ergreifen. Ja sie muss das sogar, wenn «unsere» Werte und das Völkerrecht bedroht sind. Sind die beiden Männer blind dafür, dass mit einer derartigen Neutralitätsdefinition der Willkür Tür und Tor geöffnet wird? So haben in den letzten zwei Dekaden die NATO, die USA und einige der EU-Staaten in mindestens sechs Fällen frei und ungeniert das Völkerrecht gebrochen und ohne den Segen des Sicherheitsrats militärisch interveniert. All diese Verletzungen untergraben die fragile Struktur des Völkerrechts. Und sie stürzen zu unguter Letzt die Welt in gesetzlose Kriege, in denen jeder gegen jeden kämpft. Wie wunderbar, wenn man sich rechtzeitig auf die Seite der Mächtigen stellt!
  • Eine radikale Neuinterpretation des Haager-Abkommens: Das kündigte die GLP in der NZZ am Sonntag (1.05.22) an: Künftig sollen Demokratien mit Waffen beliefert werden können. Zum Glück verweist der erfahrene Laurent Götschel nüchtern darauf, dass das Neutralitätsrecht unabhängig von der Art des Regimes gilt.
  • Auch die Idee zum NATO-Beitritt und damit zur Preisgabe der Neutralität spukt herum: Nur sind jene einen, die mit einem NATO-Beitritt liebäugeln, blind dafür, dass die angeblich als Verteidigungsbündnisse organisierten Blöcke die Gefahr erhöhen, dass sich lokale Konflikte ausweiten und zu Weltkonflikten bis hin zu einem neuen Weltkrieg mit Atomwaffen eskalieren. Just die Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür. Es handelt sich um einen Stellvertreterkrieg, kämpfen doch die USA seit langem darum, Russland zu destabilisieren. Was Jimmy Carter bereits vor dem Einmarsch der Russen in Afghanistan begonnen hatte [1], wurde von der Rand Corporation als «Overextending and Unbalancing Russia»2 zusammengefasst und 2019 dem Repräsentantenhaus vorgelegt. Das ist denn auch der Grund dafür, dass der Ukraine-Konflikt am Verhandlungstisch schier unlösbar und deshalb brandgefährlich ist. Denn ebenso klar: Der dritte Weltkrieg wird in Europa ausgefochten, mit Europa und Russland als Verlierer und den USA als «lachende Dritte».
  • Es gibt auch die Idee, die Partnership of Peace zu vertiefen. Persönlich habe ich 2014 in der Vorlesung von Bruno Lezzi, Militärhistoriker, Generalstabsoffizier und einstiger NZZ-Mitarbeiter erfahren, dass die Schweiz seit langem unter dem Etikett Partnership for Peace bei der NATO mitarbeitet. Die Vorlesung fiel mitten in den Euro-Maidan: Der Lady Macbeth der USA, Victoria Nuland, war es gelungen, zusammen mit faschistischen Kräften, den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten loszuwerden. Die OSZE, damals von der Schweiz präsidiert, sollte für den Konflikt eine Lösung suchen. Es wurden wichtige Fragen diskutiert – allerdings im Licht von pur strategischen Überlegungen. Ich wollte deshalb wissen: «Kümmert sich denn auch jemand darum, wie dieser Konflikt friedlich gelöst werden kann? Bruno Lezzi kam mit hoch erhobenen Händen auf mich zu und korrigierte: «Aber, Frau Tobler, das ist doch jetzt nicht die richtige Frage.» In der nächsten Vorlesung schlug er vor, dass nur noch Studierende Fragen stellen sollen. Ich hab mich brav daran gehalten.

Die Schweiz – am Ende sogar unterwegs zu einer hinterhältigen Neutralität?

Ich bin zwar überzeugt, dass die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung die Neutralität noch nicht diskussionslos aufgeben will. Aber wie weit wird derzeit sogar einem feigen Neutralitätskonzept Vorschub geleistet? Auch dafür ein Beispiel; leider ein unheimliches im Freud’schen Sinn. Grossnachbar Deutschland hat sie nämlich nie ganz aufgegeben: die Verbindungen mit Staaten und Gruppierungen, die sich einst mit Hitler gegen Russland verbündet hatten. Zu den Staaten mit enger Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten gehören Kroatien und Slowenien: im Juni 1991 vom damaligen Aussenminister Genscher als souveräne Staaten anerkannt und aus dem jugoslawischen Staatenverbund herausgelöst. War das der Funke für den Kriegsausbruch im Pulverfass Jugoslawien? Zu den Staaten, die eng mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiteten, gehören aber auch das Baltikum und die Ukraine [3]: jenes Land, mit dem Deutschland sogar eine hundertjährige Tradition im Machtkampf gegen Russland gepflegt hat. Die langzeitlichen, wenn auch wechselnd engen Verbindungen mit den faschistischen Gruppierungen im Osten wurden erst von Willy Brandt unterbrochen. Auch das hat sich inzwischen wieder geändert.

Im April 2022 reiste Annalena Baerbock in die baltischen Staaten und schwadronierte:[4] «Wir stärken unsere Wehrhaftigkeit, und über Wehrhaftigkeit können wir von Lettland, Estland und Litauen viel lernen.» Heldinnenmutig hat die deutsche Aussenministerin dann ein Denkmal für die Opfer des Kommunismus besucht. Nicht eingeplant war ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, obwohl im Baltikum von den Nazis und ihren Kollaborateuren rund 260 000 Juden ermordet wurden. Und bis heute werden in allen vier Oststaaten die faschistischen Kollaborateure verehrt und öffentlich geehrt: mit Denkmälern, Strassennamen, Feiertagen etc.

Noch weit irritierender: Deutschland nimmt immer wieder neu Rücksicht auf diese Verehrung von Kollaborateuren. Und auch die Schweiz trägt das – jüngst oder immer schon? – brav und neutral mit! Das sei am Beispiel den UN-Resolution vom 21.12. 2021 [5] illustriert: Sie fordert ein entschlossenes Vorgehen aller Mitgliedstaaten gegen Rassismus und Antisemitismus und drückt «tiefe Sorge über die Glorifizierung ... der Nazibewegung, des Neonazismus und ehemaliger Mitglieder der Waffen-SS aus». [6]

Die Resolution wurde mit klarer Mehrheit angenommen, aber nicht einstimmig verabschiedet: 130 Staaten stimmten dafür, 49 Staaten enthielten sich der Stimme und zwei Staaten stimmten «nein»: die Ukraine und die USA! Zwölf Staaten waren abwesend; die Enthaltungen kamen alle von den EU- und NATO-Ländern... und von der Schweiz. Auch Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea und einige vom Westen abhängige Kleinstaaten enthielten sich der Stimme. Darunter alle Staaten, die jetzt Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Aber besonders pitoyabel: Auch die deutsche Regierung hat dieser Resolution nicht zugestimmt und es unterlassen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus und von dessen Kollaborateure unmissverständlich zu verurteilen. Persönlich schäme mich allerdings am meisten für die Schweiz: einmal mehr hat sie sich ihrem grossen Nachbarn und der noch mächtigeren USA gebeugt.

Höchste Zeit, um nachzudenken: Doch satteln wir das Pferd zuerst am Schwanz auf!

Russland hat mit seinem Überfall klar gegen das Völkerrecht verstossen und wurde dafür zu Recht verurteilt. Laut Art. 2 der UNO-Charta ist aber beides verboten: sowohl andere Länder anzugreifen als auch andere Staaten zu bedrohen. Russland hat das erstere, die NATO das Letztere getan: Nicht nur wurden die einstigen Versprechungen gegenüber Russland gebrochen, sondern die NATO hat sich in den vier Wellen der Osterweiterung Russland immer bedrohlicher angenähert; zum Schluss sogar Putins mehrmalig vorgetragene Bitte nach Sicherheitsgarantien für sein Land abgeschlagen.

  • Weshalb aber hat niemand auf die zig Völkerrechtsbrüche der NATO verwiesen?
  • Weshalb wurde nicht auf den Verstoss gegen Artikel 2 in der UNO-Charta aufmerksam gemacht?
  • Weshalb hat die Schweiz, die an der Ausarbeitung des Minsker-Abkommens wesentlich beteiligt war, nicht rechtzeitig und mit Nachdruck alarmiert, als der Vertrag nicht eingehalten wurde?

Offensichtlich zieht das Völkerrecht oft den Kürzeren gegenüber der Machtpolitik, und die Verletzungen des Völkerrechts werden mit ungleichen Ellen gemessen von Regierungen wie von der öffentlichen Meinung. Um nur zwei Beispiele zu nennen:

  • Wo beginnt das Recht auf Selbstverteidigung? Wann ist es ein Angriff? Die Türkei begann im April mit bewaffneten Angriffen auf Nord-Syrien und im Nord-Irak. Die NATO erklärt das als Selbstverteidigung.
  • Was bedeutet das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Kosovo, Kroatien, Slowenien wurden von EU, der USA und der Schweiz aus dem souveränen Staat Jugoslawien abgetrennt! Russland beruft sich, mit den beiden Donbass Republiken und der Krim, auf dasselbe Recht.

Doch weshalb soll bei den einen etwas völkerrechtlich in Ordnung sein, bei den anderen hingegen nicht? Fehlt es da zu guter Letzt an einem Gebot der Fairness? An einer Regel auf der Metabene von der Art: Niemand kann bzw. darf sich auf ein Recht berufen, das er seinem Gegner nicht zubilligt!

Wie denn könnte eine zeitgemässe Neutralität der Schweiz aussehen?

Ich bin jetzt kühn, aber aus guten Gründen: Denn zum einen weiss ich, wie sehr die liberale Weltwirtschaft weltweit eine immer gewaltigere Ungleichentwicklung produziert, die sich im Innern der armen Staaten als wachsenden interne Polarisierung umsetzt – etwas, was wiederum die zunehmende Einwegwanderung von Süd nach Nord verursacht. Zum andern bezweifle ich, dass der westliche Machtblock seinen bislang grenzenlosen Zugriff auf die globalen Ressourcen und den damit verbundenen Überkonsum, auf die Dauer halten und durchsetzen kann.

Weshalb ist die Schweiz so blind dafür, dass die geopolitischen Machtverhältnisse sich künftig ändern werden, ja ändern müssen? Ich bin überzeugt: Friedensarbeit und Ausgleich werden immer dringender und nötiger. Deshalb wäre es klug, wenn die Schweiz künftig eine aktive und gleichzeitig faire und konstruktive Neutralitätspolitik betreiben würde. Eine solche kann nur praktiziert werden, wenn sie längerfristig überlegt und verfassungsrechtlich abgesichert ist. Definitiv kann «Neutralität» nicht das sein, was Politikerinnen schweizweit ad hoc grad so alles meinen oder zur Steigerung ihrer Popularität von Fall zu Fall definieren und umdefinieren. Neutralität ist auch keine Windfahne, die sich grad nach den jeweils Mächtigen dreht, seien das die jeweiligen Amtsinhaber:innen oder aber grossmächtige Staaten und Interessenorganisationen. Kurz eine Neutralität mit Zukunft ist aktiv, konstruktiv und fair.

Einige Vorschläge für eine aktive und konstruktive und faire Neutralität

  1. Die Schweiz benennt Verletzungen von Völkerrecht und der UNO-Charta: Sie mahnt diese rechtzeitig in der UNO bzw. bei den verantwortlichen UN-Organisationen an. Russland hat mit seinem Krieg gegen die Ukraine das Völkerrecht verletzt, die NATO vorher mit ihrer Osterweiterung die Sicherheit von Russland bedroht und, erst recht mit der Weigerung, Russland die nötige Sicherheit zu garantieren, den Artikel 2 der UNO-Charta verletzt – alle drei Tatbestände sind relevant!
    Erst recht hat die Schweiz die Verletzungen jener Verträge anzumahnen, für die sie mitverantwortlich ist: z. B. das MINSK-Abkommen II. Und als Depositar-Staat der Verträge zum Humanitären Völkerrecht, nimmt die Schweiz ihre Rolle künftig aktiv wahr: Sie sorgt z. B. dafür, dass die andauernden Völkerrechtsverletzungen von Israel endlich deutlich und klar zur Sprache kommen. Und in diesem Sinne hatten wir in der Schweiz bereits seit langem sogar eine Drückeberger-Neutralität!
  2. Als neutrales Land trägt die Schweiz künftig fraglos jene UN-Sanktionen mit, die entweder von der Mehrheit der UN-Staaten oder vom Sicherheitsrat beschlossen wurden. Mit einer Ausnahme:
  3. Die Schweiz trägt, als humanitäres Land, k e i n e Sanktionen mit, welche die Bevölkerung treffen: Wasser, Elektrizität, medizinische Versorgung, das Gesundheitswie das Bildungswesen müssen, trotz Sanktionen, reibungslos funktionieren können.
  4. Die Schweiz engagiert sich aktiv für die Konfliktvermittlung wer immer die Streithähne sind! Konfliktvermittlung wäre im Ukraine-Krieg dringend nötig, weil dieser Konflikt ins Desaster führen kann: Entweder in einen Atomkrieg, der, wie erwähnt, n i c h t die USA, sondern Europa treffen wird – auch das gehört zum Spiel einer grossmächtigen USA ,die die Welt regieren will. Oder aber weil ein Zusammenbruch Russlands gewaltige Unruhen, Wanderungen, Anomie etc. mit sich bringen wird. Auch das wird zum grossen Schaden von Europa sein.
  5. Die Schweiz sorgt dafür, dass wenigstens ihre staatliche Medien, SRF, auch in Kriegsfällen eine qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit leisten. Journalistische Grundregeln verlangen, dass allseitig informiert wird, die Probleme und Interessenpositionen auf beiden Seiten erforscht, die Widersprüche dargelegt und kommentiert werden. Nur auf diese Weise instruiert, kann das gefährliche Groupthink [7] verhindert werden und die Schweiz auch künftig eine Rolle einnehmen, die zwischen Kriegsparteien konstruktiv zu vermitteln vermag.
  6. Die Schweiz leistet künftig aktive Friedensarbeit: Sie tritt z. B. dem Atomwaffenverbotsvertrag bei.

Bleibt die letzte grosse Frage: Wie kommen wir zu mehr Fairness?

Also zu Regeln in einem überparteilichen Regelwerk, die der Schweiz eine zukunftsträchtige aktive und konstruktive Neutralitätspolitik erlauben? Es müssten Regeln sein, die von Frauen und von Männern als fair erlebt und gleichermassen respektiert werden. Davon sind wir aber heute noch meilenweit entfernt. Carol Gilligan [8] hat sich in ihrem Werk auf Jean Piaget und Jane Levet abgestützt: Deren Untersuchungen hatten erbracht, dass die Knaben im Wettbewerb und in Grossgruppen auf Regeln angewiesen sind und just in ihren Debatten darüber Fairness lernen. Die Mädchen hingegen waren mehrheitlich in Kleingruppen mit Geschicklichkeitsspielen beschäftigt; gab es Streit, gingen sie auseinander. Gilligan hat diese Fairness als männliche Prinzipienethik bezeichnet, der sie dann eine weibliche Fürsorgeethik entgegengehalten hat.

M. E. hat sie aber Wichtiges übersehen: Zwar basiert die Fairness der Männer innerhalb des Grossverbandes auf komplexen Gruppenregeln, doch berufen sich die Frauen ebenfalls auf eine Fairness-Regel. Diese ist allerdings vertikal: die Stärkeren haben die Schwächeren zu schützen! Und dem Starken ist es streng verboten, den Schwächeren anzugreifen.

Die Zeiten haben sich geändert – und manche Mädchen spielen heute Fussball. Doch sind in der Kehrichtabfuhr immer noch grossmehrheitlich Männer, im Container-Verlad ausschliesslich Männer beschäftigt. Und der Krieg in der Ukraine wird auf beiden Seiten vorwiegend von Männern geführt!

So schwingen vielleicht im Salat um den Ukraine-Konflikt denn doch nicht nur traditionale Vorstellungen an, sondern hat auch die körperliche Ausstattung damit zu tun. So hat die Neutralität à la MCR zwar bereits im Kosovo-Fall den Schwächeren geschützt: Sie kann das aber nur, weil sie sich gleichzeitig unter den Schutz des Stärkeren, in damaligen wie im heutigen Fall, der NATO stellt.

Wie erwähnt: Ich bin gegen die inzwischen schwer bewaffneten Grossverbände, weil diese die Kriegsgefahr bis zum Geht-nicht-mehr erhöhen. Und weil schlussendlich nicht mehr der Männermut über Sieg und Niederlage entscheiden, sondern das mächtigere und gefährlichere Waffenarsenal. Deshalb wäre es nicht nur interessant, sondern überaus wichtig, wenn wir in der Schweiz alle, Männer und Frauen zusammen, über Fairness nachdenken und miteinander debattieren würden, wie Fairness künftig zu konzipieren wäre, so dass eine konstruktive Zukunft möglich wird. Denn weltweit sind heute die Schwächeren ja durchaus nicht in der Ukraine, sondern ausserhalb der westlichen Wohlstandswelt und ihrer Verbündeten. Und so ist nach wie vor und erst recht kluger Rat gefragt.

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  1. Robert Michael Gates: From the Shadows, The Ultimate Insider's Story of Five Presidents and How They Won the Cold War Taschenbuch. 9. Januar 2007
  2. https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_briefs/RB10000/RB10…
  3. German Foreign Policy 22.6.21:Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (II)
  4. German Foreign Policy, 21.4.2022: Das Gedenken der Wehrhaften.
  5. https://digitallibrary.un.org/record/3951466
  6. 6 Combating glorification of Nazism, neo-Nazism and other practices that contribute to fuelling contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance : resolution / adopted by the General Assembly
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppendenken
  8. Carol Gilliga: In a Different Voice, 1990.

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Verena Tobler, lic. phil., ist Soziologin, Fachfrau für interkulturelle Kommunikation und Mediatorin, http://kernkultur.ch/