Die Rolling Stones live für 13 Franken 20

Als ich mich in die Welt verliebte – Chronologie einer Leidenschaft
#2

Das legendäre Konzert der Rolling Stones vor 55 Jahren. (Bild: zVg)

Kann man sich in die Welt verlieben? Unser Autor Nicolas Lindt hat zurückgeblickt auf die späten 60er Jahre, als er die Welt zu entdecken begann. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sein Weg, diese Liebe zu leben, war das Schreiben. In seinen Texten erzählt Nicolas Lindt die Geschichte seiner Bewusstwerdung: ein Zeitdokument für alle, die damals jung waren – und für alle, die heute jung sind und wissen möchten, wie die Welt vor 50 Jahren erlebt werden konnte.
In Folge 1 schildert Lindt, wie er als 14-Jähriger den Globuskrawall in Zürich erlebte und wie er die Welt zu entdecken begann: Nicht über die Politik – sondern über die Beatmusik.


Die Beatles hatten das Feuer in mir entzündet – die Rolling Stones liessen es auflodern. Ihre Musik war härter, erdiger, weniger zivilisiert als die der Beatles, und obwohl ich oft nur den Titel der Songs verstand, ahnte ich die Provokation in den Texten.

Ich spürte das Unkorrekte und Unangepasste der Stones, das auch ihr Auftreten prägte. Sie trugen die Haare länger und liessen sich – im Unterschied zu den frühen Beatles – nicht in eine Uniform stecken. Sie kleideten sich, wie es ihnen gerade passte, und auf Fotos machten sie keine netten Gesichter. Sie wollten keine Gutmenschen sein, das gefiel mir schon damals.

In meinem Zimmer prangte ein grosses Poster der Rolling Stones, und wenn ich am Tisch sass und meine Schulaufgaben erledigte, grinste mir Mick Jagger entgegen. Er war mein Idol, so ein Sänger wie er wollte ich sein.

Als die Zeitung vermeldete, die Rolling Stones würden am 14. April 1967 in die Schweiz kommen, war für mich klar: Ich musste dabei sein. Das Konzert sollte im Zürcher Hallenstadion stattfinden. Weil ich aber in jenem Jahr gerade erst 13 war, erlaubten mir meine Eltern nicht, hinzugehen – auch deshalb nicht, weil den Rolling Stones der Ruf vorausging, ihre Konzerte würden meist im Radau enden.

Ich besuchte damals noch die Schule im Dorf, und in meiner Klasse hatte niemand die Absicht, das Konzert zu besuchen. Die meisten wussten gar nichts davon. Ich jedoch war untröstlich. Die Rolling Stones zu verpassen, fand ich ganz schlimm – als hätte ich schon damals geahnt, dass ihr Auftritt in die Zürcher Geschichte eingehen würde.

Ich liess nicht locker und bearbeitete meine Eltern so lange, bis mein Vater einen Vorschlag zur Güte machte. Er werde mich bis vor den Eingang des Hallenstadions begleiten und danach in Oerlikon, in einem Restaurant auf mich warten. Damit beruhigte sich auch meine Mutter. Und obwohl sie beide mit meiner Musik nichts anfangen konnten, halfen sie mir sogar, das Geld für die Eintrittskarte  zusammenzubringen. Ich durfte ihre Bibliothek alphabetisch ordnen – eine zweifellos nicht sehr dringende Arbeit, die mir aber den Weg zum ersehnten Konzert öffnete.

Ich kaufte das günstigste Billett – damals sagte man dem Ticket noch so – und bezahlte dafür 13 Franken 20. Es war bloss ein rotes Stückchen Papier, doch ich bewahrte es auf wie den Schlüssel zu einer verlockenden Tür. Als ich ein paar Tage später im Dorf unterwegs war, fiel mir am Boden ein rotes Stückchen Papier auf. Ungläubig hob ich es hoch – es war ein Rolling Stones-Billett. Eines für 22 Franken. Die besten Plätze. Halbherzig und nur telefonisch meldete ich meinen Fund auf dem Polizeiposten und hoffte, niemand würde sich melden.  

Niemand meldete sich. Die Person, die das Billett verloren hatte, dachte offenbar nicht daran, beim Polizeiposten nachzufragen. Mein schlechtes Gewissen, unverdienterweise ein fremdes Ticket behändigt zu haben, war damit beruhigt. Und so kam es, dass ich das Konzert der Stones von einem der besten Plätze aus mitverfolgte – mit dem Operngucker meiner Grossmutter.

Wegen der schlechten Akustik ertrank die Musik im Lärm und im Kreischen des Publikums, aber das störte mich nicht. Mit meinen knapp 13 Jahren war ich möglicherweise der jüngste Konzertbesucher und einfach nur fasziniert von all dem, was ich sah. Ich blickte durch meinen antiken Feldstecher und verfolgte gebannt die Versuche einzelner Fans, die Bühne zu stürmen und sich Mick Jagger zu nähern, um ihm die Jacke vom Leibe zu reissen. Keinem von ihnen gelang es. Von Securitasmännern verfolgt, wurden sie eingefangen und zurückspediert in die brodelnde Zuschauermasse.

Auch in Zürich wurde die Band ihrem Ruf gerecht. Sie heizte das Publikum derart auf, dass das Konzert im Tumult endete. Mit offenem Mund sah ich zu, wie junge Vandalen vor den Augen der überforderten Polizei sämtliche Stühle zertrümmerten. Was an diesem Abend geschah, erwies sich im nachhinein als eine Art Donnergrollen vor den Krawallen im folgenden Jahr.

Jedenfalls hatte der Dreizehnjährige seinem Vater, der ihn im Sternen Oerlikon in Empfang nahm, viel zu erzählen. Und wieder zuhause, im krawallfreien Goldküstendorf, drängte es mich, meine Gedanken über die Stones und über Mick Jagger nach ihrem Auftritt in Zürich in Worte zu fassen. Ich setzte mich an die Schreibmaschine meiner Eltern und schrieb:  

«Schon beim ersten Song begann er. Den Mikrofonständer mit beiden Händen haltend, hüpfte und tanzte er wild, aber rhythmisch umher. Dazu schwang er den Ständer in der Luft und schüttelte ihn gegen das Publikum. Etwa nach dem dritten Song riss er das Mikrofon vom Metallständer weg und sang ohne ihn. Der Sänger sprang auf der Bühne herum wie ein wilder Indianer, streckte die Arme aus und fuchtelte in der Luft herum. Endlich zog er die Jacke aus und sang im Hemd weiter. Er war der eindeutige Motor der Band – denn die anderen spielten wie im Reich der Träume.»

«Der Sänger ist jetzt 23 Jahre alt. Nun kann man sich fragen, ob es richtig für ihn war, aus der Schule auszutreten, um Musik zu machen. Darauf gibt es nur eine einzige Antwort: Nein! Denn Mick missbraucht seinen Ruhm. Kürzlich musste sich der Star mit Keith Richards und Brian Jones zusammen vor Gericht wegen Rauschgiftdelikten verantworten. Die Beatles verderben sich ihren Erfolg nicht mit Drogen. Weshalb dann die Stones?»

«Ihre letzte Tournee, die sie auch in die Schweiz führte, sah etwa so aus: Jede Nacht ein anderes Bett, von den Städten sieht man nur die Flughäfen, die Hotels und die Bühnen, eine einzige Hetzerei durch ganz Europa, nirgends Ruhe und Schlaf, überall Termine, die auf sie warten. In so einem Rummel mitzuhalten und für die Fans stets bereit zu sein, ist verdammt schwer. Darum spielt bei Mick Jagger das Rauschgift eine so grosse Rolle. Doch er verpfuscht sich sein Leben auf diese Art. Sein Musiktalent kommt auch nicht mehr so richtig zur Geltung. Vielleicht wäre er jetzt ein guter Student?»

Eine interessante Schlussfolgerung. Mit meinen 13 Jahren war ich noch nicht ganz frei von den Erwartungen der Erwachsenen.

Folge 3 am nächsten Sonntag: «Als ich Radio Beromünster bekehren wollte»