Die Stromlücke – eine «Denklücke»?
Schon Kaiseraugst hätte eine drohende Stromlücke schliessen müssen
Gegen den eingängigen Begriff der «Stromlücke» war die Umweltbewegung machtlos: Im letzten Winter war der Bau neuer Kernkraftwerke, der zwei Jahrzehnte lang unmöglich schien, innert kürzester Zeit zurück auf der politischen Tagesordnung. Am 31. August versuchte die Schweiz. Energie-Stiftung SES an einer Tagung in Zürich, die «Stromlücke» als Mythos zu entlarven. Die anwesende Elektrizitätswirtschaft versuchte schon gar nicht, sich zu verteidigen.
«Die Stromlücke gibt es nicht» versuchten sich Grüne und Umweltbewegung vor Jahresfrist gegen den Begriff zu wehren, der mit seltener Geschwindigkeit den Widerstand gegen neue Atomkraftwerke brach. Vergeblich: Als Bundesrat Moritz Leuenberger im vergangenen Februar die Option neuer Kernkraftwerke vor den Medien begründete, genügte ihm dazu der Verweis auf die drohende Stromlücke. Der Begriff sei «von der Werbeabteilung der Atomlobby erfunden» worden, sagte SES-Präsident Nationalrat Geri Müller (Grüne/AG) am Freitag zur Eröffnung der Tagung «Mythos Stromlücke», um uns über die «vermeintliche Stromknappheit» gefügig zu machen für die «Fortsetzung der verfehlten Strompolitik». In der Tat: Vor genau 20 Jahren, im September 1987 schrieb der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE: «Die Stromlücke erreicht bis zum Winterhalbjahr 2004/2005 ein Ausmass von 4,3 Mia. KWh … Ohne die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Kaiseraugst wird die Lücke sogar 7,2 Mia KWh (ca. AKW Gösgen) betragen.» Die Realität, das wissen wir mittlerweile, sieht anders aus.
Verbrauch steigt – bei tiefen Energiepreisen
Ob sich die heute prognostizierte Stromlücke von der damaligen unterscheidet, darüber diskutierten an der Tagung eine Reihe von Fachleuten, und dabei zeigten sich die Tücken von Prognosen. Gemäss den «Energieperspektiven Schweiz 2035», vorgestellt von Vincent Rits, Projektleiter Energiepolitik der Basler Beratungsfirma Prognos, steigt die Elektrizitätsnachfrage bis 2035 je nach Szenario um 29,1 Prozent («weiter wie bisher») oder sinkt um 2,1 Prozent («Wege zur 2000-Watt-Gesellschaft»). Weil Lieferverträge und Betriebsbewilligungen auslaufen, beträgt die Unterdeckung wiederum je nach Szenario zwischen 9 und 31 Prozent. Rits erwähnte jedoch nicht, dass der wichtigste Einflussfaktor auf die Nachfrage, der Strompreis, als konstant niedrig angenommen wurde (18 Rappen/kWh). Dabei hat er sich in Deutschland seit der Marktliberalisierung 1999 für den Endverbraucher verdoppelt und auch in der Schweiz ist er an der Strombörse Laufenburg seit 2000 im Durchschnitt 18 Prozent pro Jahr teurer geworden. Teurer werden dürfte der Strom auch mit der absehbaren Verknappung. Schliesslich wurde das Öl als wichtigster Konkurrent der erneuerbaren Energien mit 30 Dollar/Barrel eingerechnet, obwohl es seit über zwei Jahren doppelt so viel kostet. Im Gespräch meinte Rits, eine Rückkoppelung von Angebot, Nachfrage und Preis sei in ihren Modellrechnungen nicht möglich, da zu kompliziert. Auch der mögliche Ersatz der auslaufenden Lieferverträge wurde nicht berücksichtigt, obwohl schweizer Stromkonzerne auch im Ausland in erneuerbare Energien investieren. Man darf der von Prognos im Auftrag des Bundesamtes für Energie errechneten Stromlücke wohl mit mindestens so viel Skepsis begegnen wie der «Stromlücke» der Elektrizitätswirtschaft vor 20 Jahren.
Die Stromlücke – Realität, Denklücke oder Umsetzungslücke? Antworten suchten auf Einladung der Schweiz. Energie-Stiftung (v.r.n.l): Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (DENA, Stefan Aeschimann, Leiter Public Affairs von ATEL, Michael Sailer, Atomenergieexperte am Öko-Institut Darmstadt, Michael Kaufmann, Vizedirektor des Bundesamtes für Energie und der Energieplaner Conrad U. Brunner.
Renaissance der Atomkraft – es fehlen die Ingenieure
Auf die Behauptung, diese Stromlücke sei ein Mythos, gingen denn auch die anwesenden Vertreter der Elektrizitätswirtschaft und ihrer PR-agentur Burson-Marsteller nicht ein. Stefan Aeschimann, Leiter Public Affairs des Energiekonzerns ATEL, betonte lediglich, dass der Stromanteil im Energiemix mit den erneuerbaren Energien steigen und sich sein Unternehmen auch in Zukunft «für eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung» engagieren werde – kein Wort von einem neuen AKW. Dass die behauptete «Stromlücke» mit einem Kernkraftwerk geschlossen wird, ist nach Ansicht der Fachleute unwahrscheinlich. Zur Zeit befinden sich weltweit 30 Anlagen im Bau, einige seit mehr als 20 Jahren, eine einzige in Westeuropa. Von einer «Renaissance der Kernenergie» könne also nicht die Rede sein, meinte Michael Sailer, Atomenergiespezialist am Öko-Institut Darmstadt. Zudem gebe es zu wenig (und zu alte) Ingenieure und zu wenig Fertigungskapazität.
Die «Umsetzungslücke» schliessen
«Wenn wir ohne Grosskraftwerke auskommen wollen, müssen wir die Energieeffizienz massiv verbessern», erklärte Michael Kaufmann, Vizedirektor des Bundesamtes für Energie und präsentierte ein ganzes Bündel von verbindlichen Massnahmen. Vorgesehen sind u.a. Mindestanforderungen an elektrische Geräte, eine Lenkungsabgabe auf Treibstoffen, verbrauchsabhängige Motorfahrzeugsteuern, eine Teilzweckbindung der CO2-Abgabe für die Gebäudesanierung oder die Verpflichtung der Elektrizitäts-Lieferanten auf Effizienztarife (wer spart soll, belohnt werden und nicht wie bisher umgekehrt) – Massnahmen, die schon seit längerer Zeit diskutiert werden. Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen EnergieAgentur (DENA), die im Auftrag der Bundesregierung Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördert, spricht denn auch von einer «Umsetzungslücke».
Märkte kennen keine Lücken
Im abschliessenden Referat versuchte der Energieplaner Conrad U. Brunner die Stromlücke als «Denklücke» zu entlarven. Seine Argumente:
• Die Energiepreise seien in den Prognosen zu niedrig gerechnet, was den Spareffekt lähme.
• Die Energieeffizenz sei bis jetzt sträflich vernachlässigt worden, obwohl sie sich gesamtwirtschaftlich rechne. In zehn Jahren hätten energieeffiziente Geräte erst einen Marktanteil von zehn Prozent erreicht. In den nächsten zehn Jahren hält er einen Marktanteil von zwei Dritteln für realistisch, was den Stromverbrauch fast halbiere. Vor allem ins Gewicht fallen Strom fressende Elektromotoren in Industrie und Gewerbe, sinnlose Standby-Schaltungen und ineffiziente Kühlschränke.
• In funktionierenden Märkten entstünden keine Lücken zwischen Angebot und Nachfrage, wohl aber Preissteigerungen und Ersatzmassnahmen. Die Idee einer echten Stromverknappung hält Brunner für eine «bewusste und demagogische Irreführung der Stromwirtschaft».
Fazit: Die Stromlücke ist im Grunde eine Erneuerungs- und eine Effizienzlücke. Und wenn die Elektrizitätswirtschaft den Begriff weiterhin verwendet, leidet sie an Denk- und Erinnerungslücken. Eine Behauptung, die schon vor 20 Jahren falsch war, wird nicht wahrer, indem man sie heute wiederholt.
Weitere Unterlagen:
http://www.energiestiftung.ch/
Die Denk-Lücke von NR Geri Müller
«Die Stromlücke gibt es nicht» versuchten sich Grüne und Umweltbewegung vor Jahresfrist gegen den Begriff zu wehren, der mit seltener Geschwindigkeit den Widerstand gegen neue Atomkraftwerke brach. Vergeblich: Als Bundesrat Moritz Leuenberger im vergangenen Februar die Option neuer Kernkraftwerke vor den Medien begründete, genügte ihm dazu der Verweis auf die drohende Stromlücke. Der Begriff sei «von der Werbeabteilung der Atomlobby erfunden» worden, sagte SES-Präsident Nationalrat Geri Müller (Grüne/AG) am Freitag zur Eröffnung der Tagung «Mythos Stromlücke», um uns über die «vermeintliche Stromknappheit» gefügig zu machen für die «Fortsetzung der verfehlten Strompolitik». In der Tat: Vor genau 20 Jahren, im September 1987 schrieb der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE: «Die Stromlücke erreicht bis zum Winterhalbjahr 2004/2005 ein Ausmass von 4,3 Mia. KWh … Ohne die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Kaiseraugst wird die Lücke sogar 7,2 Mia KWh (ca. AKW Gösgen) betragen.» Die Realität, das wissen wir mittlerweile, sieht anders aus.
Verbrauch steigt – bei tiefen Energiepreisen
Ob sich die heute prognostizierte Stromlücke von der damaligen unterscheidet, darüber diskutierten an der Tagung eine Reihe von Fachleuten, und dabei zeigten sich die Tücken von Prognosen. Gemäss den «Energieperspektiven Schweiz 2035», vorgestellt von Vincent Rits, Projektleiter Energiepolitik der Basler Beratungsfirma Prognos, steigt die Elektrizitätsnachfrage bis 2035 je nach Szenario um 29,1 Prozent («weiter wie bisher») oder sinkt um 2,1 Prozent («Wege zur 2000-Watt-Gesellschaft»). Weil Lieferverträge und Betriebsbewilligungen auslaufen, beträgt die Unterdeckung wiederum je nach Szenario zwischen 9 und 31 Prozent. Rits erwähnte jedoch nicht, dass der wichtigste Einflussfaktor auf die Nachfrage, der Strompreis, als konstant niedrig angenommen wurde (18 Rappen/kWh). Dabei hat er sich in Deutschland seit der Marktliberalisierung 1999 für den Endverbraucher verdoppelt und auch in der Schweiz ist er an der Strombörse Laufenburg seit 2000 im Durchschnitt 18 Prozent pro Jahr teurer geworden. Teurer werden dürfte der Strom auch mit der absehbaren Verknappung. Schliesslich wurde das Öl als wichtigster Konkurrent der erneuerbaren Energien mit 30 Dollar/Barrel eingerechnet, obwohl es seit über zwei Jahren doppelt so viel kostet. Im Gespräch meinte Rits, eine Rückkoppelung von Angebot, Nachfrage und Preis sei in ihren Modellrechnungen nicht möglich, da zu kompliziert. Auch der mögliche Ersatz der auslaufenden Lieferverträge wurde nicht berücksichtigt, obwohl schweizer Stromkonzerne auch im Ausland in erneuerbare Energien investieren. Man darf der von Prognos im Auftrag des Bundesamtes für Energie errechneten Stromlücke wohl mit mindestens so viel Skepsis begegnen wie der «Stromlücke» der Elektrizitätswirtschaft vor 20 Jahren.
Die Stromlücke – Realität, Denklücke oder Umsetzungslücke? Antworten suchten auf Einladung der Schweiz. Energie-Stiftung (v.r.n.l): Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (DENA, Stefan Aeschimann, Leiter Public Affairs von ATEL, Michael Sailer, Atomenergieexperte am Öko-Institut Darmstadt, Michael Kaufmann, Vizedirektor des Bundesamtes für Energie und der Energieplaner Conrad U. Brunner.
Renaissance der Atomkraft – es fehlen die Ingenieure
Auf die Behauptung, diese Stromlücke sei ein Mythos, gingen denn auch die anwesenden Vertreter der Elektrizitätswirtschaft und ihrer PR-agentur Burson-Marsteller nicht ein. Stefan Aeschimann, Leiter Public Affairs des Energiekonzerns ATEL, betonte lediglich, dass der Stromanteil im Energiemix mit den erneuerbaren Energien steigen und sich sein Unternehmen auch in Zukunft «für eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung» engagieren werde – kein Wort von einem neuen AKW. Dass die behauptete «Stromlücke» mit einem Kernkraftwerk geschlossen wird, ist nach Ansicht der Fachleute unwahrscheinlich. Zur Zeit befinden sich weltweit 30 Anlagen im Bau, einige seit mehr als 20 Jahren, eine einzige in Westeuropa. Von einer «Renaissance der Kernenergie» könne also nicht die Rede sein, meinte Michael Sailer, Atomenergiespezialist am Öko-Institut Darmstadt. Zudem gebe es zu wenig (und zu alte) Ingenieure und zu wenig Fertigungskapazität.
Die «Umsetzungslücke» schliessen
«Wenn wir ohne Grosskraftwerke auskommen wollen, müssen wir die Energieeffizienz massiv verbessern», erklärte Michael Kaufmann, Vizedirektor des Bundesamtes für Energie und präsentierte ein ganzes Bündel von verbindlichen Massnahmen. Vorgesehen sind u.a. Mindestanforderungen an elektrische Geräte, eine Lenkungsabgabe auf Treibstoffen, verbrauchsabhängige Motorfahrzeugsteuern, eine Teilzweckbindung der CO2-Abgabe für die Gebäudesanierung oder die Verpflichtung der Elektrizitäts-Lieferanten auf Effizienztarife (wer spart soll, belohnt werden und nicht wie bisher umgekehrt) – Massnahmen, die schon seit längerer Zeit diskutiert werden. Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen EnergieAgentur (DENA), die im Auftrag der Bundesregierung Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördert, spricht denn auch von einer «Umsetzungslücke».
Märkte kennen keine Lücken
Im abschliessenden Referat versuchte der Energieplaner Conrad U. Brunner die Stromlücke als «Denklücke» zu entlarven. Seine Argumente:
• Die Energiepreise seien in den Prognosen zu niedrig gerechnet, was den Spareffekt lähme.
• Die Energieeffizenz sei bis jetzt sträflich vernachlässigt worden, obwohl sie sich gesamtwirtschaftlich rechne. In zehn Jahren hätten energieeffiziente Geräte erst einen Marktanteil von zehn Prozent erreicht. In den nächsten zehn Jahren hält er einen Marktanteil von zwei Dritteln für realistisch, was den Stromverbrauch fast halbiere. Vor allem ins Gewicht fallen Strom fressende Elektromotoren in Industrie und Gewerbe, sinnlose Standby-Schaltungen und ineffiziente Kühlschränke.
• In funktionierenden Märkten entstünden keine Lücken zwischen Angebot und Nachfrage, wohl aber Preissteigerungen und Ersatzmassnahmen. Die Idee einer echten Stromverknappung hält Brunner für eine «bewusste und demagogische Irreführung der Stromwirtschaft».
Fazit: Die Stromlücke ist im Grunde eine Erneuerungs- und eine Effizienzlücke. Und wenn die Elektrizitätswirtschaft den Begriff weiterhin verwendet, leidet sie an Denk- und Erinnerungslücken. Eine Behauptung, die schon vor 20 Jahren falsch war, wird nicht wahrer, indem man sie heute wiederholt.
Weitere Unterlagen:
http://www.energiestiftung.ch/
Die Denk-Lücke von NR Geri Müller
08. September 2007
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