Präsident Donald Trump posierte am 14. Oktober 2025 gemeinsam mit israelischen Führern und verkündete triumphierend das Ende der Feindseligkeiten. Doch der Waffenstillstand, zwar unterzeichnet in Tinte, ist getränkt in Blut, findet Shehada und schreibt in einem Beitrag für die Plattform zeteo.com: «Hinter dem politischen Theater hat Premierminister Benjamin Netanyahu eine Roadmap entworfen, die die Zerstörung Gazas nicht durch Panzer und Raketen, sondern durch rechtliche Schlupflöcher, manipulierte Abkommen und die Instrumentalisierung der Diplomatie fortsetzt. Was folgt, ist kein Frieden, sondern ein heimtückischer, systematischer Völkermord in Zeitlupe.»
Am Dienstagmorgen, einen Tag nach der Freilassung aller lebenden Geiseln durch Hamas, nahmen israelische Luftangriffe wieder Fahrt auf: Fünf Zivilisten starben in Shejaiya, zwei in Khan Younis. Israel erklärte zudem, den Rafah-Übergang – Gazas einziges Tor zur Welt – weiterhin geschlossen zu halten, obwohl er sofort nach der Geiselfreilassung öffnen sollte. Humanitäre Hilfe wurde unter dem Vorwand eingeschränkt, Hamas unternähme «nicht ausreichende Schritte», um die Leichen der verbliebenen Geiseln zu bergen.
Doch dies sei, so meint Shehada, nur eines von vier Schlupflöchern, die Netanyahu geschaffen hat, um den Genozid trotz Trumps Abkommen fortzusetzen. «Sie gewährleisten Israel Flexibilität, um Belagerungen, Bombardements und Besatzung aufrechtzuerhalten, ohne den Waffenstillstand offiziell zu brechen.» Er belegt seine Position anhand von vier Punkten:
1. Die Leichen der Geiseln als Vorwand
Hamas hatte in den Verhandlungen klargestellt, dass die Bergung der toten Geiseln Zeit brauche – aufgrund der massiven Zerstörung Gazas und des Todes Tausender Kämpfer, darunter auch die Wächter der Leichen. Eine internationale Mission mit USA, Katar, Ägypten und der Türkei soll helfen.
Doch Israels Mossad-Chef hatte Netanyahu bereits vorher gewarnt: Manche Leichen könnten nie gefunden werden, inmitten von 50 Millionen Tonnen Schutt. Die UN schätzt, es dauere 15 Jahre, die Trümmer zu räumen – ohne dass Israel mehr Lkw, Bagger und Maschinen zulässt, was derzeit verboten ist.
Netanyahu nutzt diese unvermeidliche Verzögerung als strategischen Hebel: Er wirft Hamas Verletzungen vor und entbindet Israel von Verpflichtungen.
2. Eingefrorene Rückzugsgrenzen
Israel kontrolliert derzeit 58 Prozent des Gazastreifens als abgeriegelte, entvölkerte Militärzone. Soldaten prahlen offen von einem «Ausrottungsgebiet», wo Zivilisten bei Rückkehr sofort erschossen werden. Israel plant, grosse Teile dauerhaft zu halten – das wäre, wie Shehade meint – eine unsichtbare, tödliche Berliner Mauer, die 2 Millionen Menschen in ein Gebiet kleiner als Brooklyn zusammendrängt, aber ohne jegliche Infrastruktur.
Der nördliche und östliche Teil, Gazas «Nahrungskorb» mit fast allen Ackerflächen, soll als permanenter «Sicherheitsgürtel» dienen. Ohne diese Gebiete hängen Gazaner ewig von internationaler Hilfe ab, die Israel diktiert. Der Rückzug aus weiteren 18 Prozent hängt von einer internationalen Truppe ab, was 40 Prozent Gazas entvölkert lässt.
Die Hamas akzeptierte eine solche Kraft im Waffenstillstand Januar-März 2025: Eine ägyptisch-katarische Gruppe unter US-Aufsicht prüfte Fahrzeuge im Netzarim-Korridor.
Ein Hamas-Führer signalisiert Bereitschaft zu einer «Schutztruppe» in Gaza – unter Bedingung einer ähnlichen im besetzten Westjordanland. Ihr Mandat: Waffenstillstand wahren, Verstösse überwachen, Polizei aufbauen und Sicherheitsreformen leiten.
Israel hingegen will sie als Subunternehmer: Hamas-Infrastruktur zerstören, Tunnel sprengen und Aufstände bekämpfen.
Das würde die Schutztruppe mit der Hamas kollidieren lassen, die sie als Besatzungsmacht sieht.
3. Die Abrüstungsfalle
Der schrittweise Rückzug aus dem 17-prozentigen «Sicherheitsgürtel» ist an die «Entmilitarisierung» Gazas durch die internationale Truppe geknüpft – ohne Fristen, Meilensteine oder klare Definition. Netanyahu entscheidet allein, wann und ob Rückzug erfolgt. Frühere Entwürfe sprachen nur von Abbau «offensiver Infrastruktur» (Raketen, grenzüberschreitende Tunnel), was die Hamas akzeptierte. Die Gruppe behält «defensive Waffen» (Gewehre, RPGs, Panzerabwehrraketen) für Ordnung und potenzielle Gegenwehr.
Netanyahu verhandelte sechs Stunden mit Jared Kushner und Steve Witkoff über das thema «Entmilitarisierung» und Abbau von «offensiver, terroristischer und militärischer» Infrastruktur. Das aber bedeutet vollständige Entwaffnung – inklusive Schusswaffen oder Messer. Es ist, so meint Sherada, ein explosiver Prozess, der nie endet.
Vage Begriffe wie «Terror» erlauben Israel, Rückzug zu blockieren: Es könnten «kleinere Fraktionen» oder «Bedrohungen» existieren. Israel könnte Gaza bombardieren und Tunnels oder Zellen neutralisieren – wie in Libanon trotz Waffenstillstand mit Hisbollah. Ein Likud-Sprecher verlautete: «Wir können [Gaza] von oben bombardieren, ohne Probleme.»
4. Israels Banden und Milizen
Der gefährlichste Aspekt: In den 58 Prozent unter israelischer Kontrolle verstecken sich Proxys – Kriminelle und Kollaborateure. Dazu der ISIS-nahe Abu-Shabab-Clan, der UN-Hilfe plünderte, geschützt von Israel und der Gaza Humanitarian Foundation. Neue Banden wie Husam al-Astal in Khan Younis oder Ashraf al-Mansi in Beit Lahia entstehen in Pufferzonen.
Im Waffenstillstand nutzt Israel sie für Angriffe ohne direkte Invasion – damit wird die Schuldzuweisung outgesourct. Letzte Woche töteten Gangmitglieder zwei Qassam-Offiziere, darunter Mohammed Imad Aqel, Sohn eines Kommandeurs. Am Sonntag entführte, folterte und erschoss die Abu-Shabab-Bande Journalisten Saleh Al-Jaafrawi mit sieben Kugeln.
Diese Banden locken Gazaner mit Versprechen sicherer Passage in kontrollierte Zonen, während der Rest Schutt bleibt. Eingefrorene Linien erlauben Kultivierung dieser kriminellen Banden.
Fazit: Kein Friedensplan, sondern ewige Dominanz
Dies ist kein Friedensplan, findet Sherada, sondern eine Blaupause für dauerhafte Herrschaft. Jede Klausel, Verzögerung und Umdefinition sichert, dass Gaza nie aufsteht. Israel pflastert den Weg für endlose Besatzung, Bombardements und Enteignung. Die Welt applaudiert einem Scheinwaffenstillstand, während die Maschinerie der Vertreibung mahlt.
Die Geschichte lehrt, so Shehada: Manchmal versteckt sich Genozid hinter Waffenstillständen, Komitees und diplomatischem Jargon, während der Schutt wächst und Überlebende hungern.
Muhammad Shehada ist palästinensischer Autor und Analyst aus Gaza.