Entwertung durch Ehrung

Wird die Demokratie unter ihrem eigenen Namen abgebaut?

Demonstration gegen Rechtsextremismus in Frankfurt am 20. Januar 2024, Foto: Ralph Lange / Wikipedia

Gelobt, gepriesen, beteuert, ja geradezu in den Himmel gehoben wird sie, die Demokratie. Unsere Demokratie. Überall ist von ihr die Rede. Sie muss bewahrt, geschützt und gegen ihre Feinde verteidigt werden. Gar ein Gesetz zu ihrer Förderung wurde erlassen. Politisches Handeln wird mit ihr begründet und gerechtfertigt. Der Staat unterstützt Demonstrationen und finanziert grosszügig Förder- und Werbeprogramme. Doch dient dieses grosse Theater tatsächlich der Demokratie? Könnte und sollte man nicht skeptisch werden, wenn ein Thema so in den Vordergrund gespielt wird? 

Die Meinungsfreiheit, die Meinungsvielfalt und der öffentliche Diskurs sind wesentliche Voraussetzungen einer Demokratie. Jeder Mensch darf sich die eigene Meinung bilden und sie frei äussern. Niemand benötigt eine Anweisung dafür. Denn Demokratie zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass jeder frei entscheiden kann, was er denkt und wie er handelt. 

So kann jeder Einzelne die Arbeit einer Regierung beurteilen und sie anschliessend wählen oder abwählen. Die Möglichkeit des Abwählens ist dabei entscheidend, denn sie verhindert, dass Regierungen, die der Bevölkerung Schaden zufügen, an der Macht bleiben. Ist die Regierung absetzbar, so hat sie eine Motivation, im Sinne der Bevölkerung zu entscheiden. Missbraucht sie ihre Macht, wird sie nicht wieder gewählt und verliert sie. 

Die Absetzbarkeit der Ampelkoalition mittels freier Wahlen erscheint gegenwärtig eher theoretisch denn praktisch möglich. Denn der Verlust ihrer Stimmenmehrheit bei der Europa-Wahl hat bis auf die Verstärkung der Diffamierung der Opposition und die weitere Anpreisung der Demokratie keine Konsequenzen. Die Regierungsparteien beanspruchen den Demokatriebegriff allein für sich. Nur sie wären demokratisch. 

Kontrolle der Macht 

Neben der Möglichkeit frei zu wählen, wird die Demokratie durch weitere Institutionen begrenzt und eingehegt. Die Judikative in Form des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsschutz kontrollieren die Regierung und sichern so ihre Rechtsstaatlichkeit. Sie schützen den Bürger vor staatlicher Willkür. 

Das funktioniert jedoch nicht, wenn Verfassungsgericht und Verfassungsschutz unter der Kontrolle der Regierung stehen und weisungsgebunden sind. Denn diese Institutionen dienen ja gerade als Kontrollorgane, die dafür Sorge tragen, dass sich die Herrschenden an das Gesetz halten. Die Unabhängigkeit dieser Instanzen ist daher Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. 

Existiert eine zu starke Nähe zwischen den Kontrollinstanzen und der Regierung, verlieren jene ihre Schutzfunktion. Ernennt das Ministerium für Inneres einen neuen Präsidenten des Verfassungsschutzes, so ist diese Nähe und Einflussnahme und damit der Verstoss gegen grundlegende Prinzipien der Demokratie offensichtlich. Wird das Bundesverfassungsgericht mit politisch konformen Kandidaten besetzt, so wird es zum Instrument der Politik. Kontrolle funktioniert nicht, wenn man sich zu nah ist. 

Zu dieser gegenwärtig beobachtbaren Nähe kommt die Schaffung zahlreicher neuer Gesetze. Demokratiefördergesetz, Hinweisgeberschutzgesetz, Wahlrechtsreform oder der Digital Service Act sollen angeblich die Demokratie fördern. Ebenso die Ausweitung der Befugnisse sowie der Personalausstattung des Verfassungsschutzes. Im Namen der Demokratie wirbt dieser intensiv für neue Observationskräfte. Der Widerspruch kann offensichtlicher nicht sein und ein Verdacht drängt sich auf. 

Dienen die zahlreichen neu geschaffenen Gesetze und Gesetzesverschärfungen vielleicht gar nicht der Demokratie, sondern allein der Stärkung und dem Schutz der Macht der Regierung? Derjenige, der den Staat delegitimiert, bekommt es ja bekanntlich und neuerdings mit einem starken Staat zu tun. Wird etwa die Demokratie so vordergründig und pompös geehrt, um von dem hintergründigen Abbau ihrer Grundlagen abzulenken? 

Methoden der Macht 

Hermann Broch, der aus Deutschland während des zweiten Weltkriegs flüchten musste und dessen Mutter in Theresienstadt verschollen ist, beschrieb in seiner Massenwahntheorie die Methoden totalitärer Regime. Diese übernehmen zwar Teile des alten Systems, doch füllen sie mit neuem Inhalt. Die alten Werte werden zwar geehrt, doch dienen sie lediglich als Dekoration für das Neue. Letztendlich werden sie vollständig durch neue ideologische Ideen ersetzt. 

Hannah Arendt erkannte, dass hinter jeder totalitären Macht neue Vorstellungen stehen. Die Führer und ihre Anhänger glauben, richtig zu handeln, die Gesellschaft im Namen dieser neuen Vorstellungen umgestalten zu müssen, um sie zu verbessern. Sie erklären ihr Handeln für unbedingt notwendig und zwingen der Bevölkerung eine Situation auf, die sie nicht verantworten, aber im allgemeinen auch nicht ändern kann. Die propagierte Verbesserung tritt jedoch nicht ein. Im Gegenteil, die gesellschaftlichen Zustände verschlechtern sich mit jedem Jahr. 

Die Aufgabe der Demokratie ist es, diese menschlich untragbare Situation zu erkennen und offenzulegen. Verfolgt die Regierung einen verfassungsfeindlichen Kurs, ist ziviler Ungehorsam notwendig, um das Leid, dass jede totalitäre Macht verursacht, zu verhindern. 

Sind wir in einer solchen Situation? Werden Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt verdrängt und durch eine Einheitsmeinung ersetzt? Wird die Demokratie neuen Vorstellungen und Zielen untergeordnet? Dem Ziel des Sieges über Russland, der Vorstellung der Rettung vor einer Klimakatastrophe und dem Sieg über alles, was von der Regierung unter dem Begriff «rechts» zusammengefasst wird? Bedeutet Demokratie heute, gegen diese Feinde kämpfen zu müssen? 

Die Demokratie richtet sich doch aber gerade gegen Siegesvorstellungen, sie schafft keine Feindbilder, ist der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet und hat echte Friedensziele. Wird denn die Symbolkraft des Begriffs Demokratie lediglich genutzt, um Macht zu vergrössern und wirtschaftliche Profite zu generieren? Wird die Demokratie unter ihrem eigenen Namen abgebaut? Wird sie geehrt und zeitgleich entwertet? 

Wenn dem so ist, dann schweben wir in grösster Gefahr, Recht und Freiheit zu verlieren. Dann ist es höchste Zeit, nein zusagen, nicht mitzumachen, offen zu widersprechen. Dann ist es Zeit für den zivilen Ungehorsam gegen das Unrecht und für die Wiederherstellung einer offenen demokratischen Gesellschaft, wie ihn Hannah Arendt forderte. Schauen wir genau hin, lassen wir uns nicht täuschen. Denn wenn wir unsere demokratischen Institutionen nicht schützen, geht jede Freiheit und mit ihr jede Sicherheit verloren. 


Weiterführende Literatur:

Hermann Broch, Gesammelte Werke 9, «Massenpsychologie» 

Karl Popper: «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» 

Hannah Arendt, «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» 

Mattias Desmet, «Die Psychologie des Totalitarismus» 


Cover

Humanität statt Macht- und Profitgier. Was kann uns in Zukunft Orientierung, Halt und Sicherheit geben?

Der Essay ist hier erhältlich:

https://buchshop.bod.de/schaffen-wir-eine-neue-kultur-tom-reimer-9783756809196


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