Es geht um die Sicherheit
Ein leitender Stadtpolizist plant das Sperrgebiet rund um ein Fussballstadium. Die Dimensionen sind gross, und der Chefbeamte nimmt seine Aufgabe ernst. Doch auf jeden Tag folgt ein Abend. Eine beinahe wahre Geschichte aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Es war sein Plan. Jedenfalls empfand er ihn so. Unter seiner Leitung war die Sperrzone ausgearbeitet worden. Der gesamte Bereich zwischen Albisriederplatz und Flurstrasse sowie zwischen Hohlstrasse und Albisriederstrasse wurde grossräumig abgesperrt. Während vier Tage. Einer seiner Mitarbeiter fand die Zone zu gross, zu überdimensioniert. Man hätte sie kleiner festlegen können, mit Rücksicht auf die Bevölkerung im Quartier. Doch Beat Staudenmann hatte argumentiert, die Zone könne nicht gross genug sein. Man müsse für den Notfall gerüstet sein.
«Aus den Erfahrungen anderer Städte wissen wir», erklärte der Stadtpolizist seinen Leuten, «dass der Andrang von Fans, die kein Ticket haben, immens sein wird. Es würden mit Sicherheit viele Hunderte kommen und sie würden die Ausgänge rund um das Stadion behindern. Kommt es im Stadion während der Konzerte zu einer unerwarteten Massenpanik, müssen die Fluchtwege frei sein. Um dies zu gewährleisten, müssen auch die hinteren Strassen abgesperrt werden.»
Derselbe Untergebene meinte, bei früheren Grosskonzerten im Letzigrund – bei Metallica, Madonna oder U2 – habe man ein so grosses Sperrgebiet auch nicht für nötig erachtet. Doch Staudenmann, der die Verantwortung hatte, wies noch einmal darauf hin, dass im Falle von Taylor Swift mit Hunderten von Fans ohne Tickets rund um das Stadion zu rechnen sei. Und an die Adresse seines Mitarbeiters gewandt, meinte er, vielleicht hätte man auch bei früheren Grossevents bereits eine Sperrzone einrichten müssen. «Es geht um die grösstmögliche Sicherheit. Und wir müssen sie garantieren.»
Es geht um die Sicherheit: Das war der Lieblingssatz des Vorgesetzten, der Staudenmann hiess. Er sagte es bei jeder Gelegenheit, und der Satz kursierte bei seinem Team bereits als geflügeltes Wort. Niemand konnte ihm widersprechen. Die Sicherheit geht über alles.
In der Sperrzone, in der mehrere tausend Menschen wohnen und werktätig sind, durften nur noch die Anwohner ihre Autos parkieren. Mehrere Parkhäuser in der betroffenen Zone waren für Auswärtige nicht mehr benutzbar. Jeder Autoverkehr von aussen war unterbunden, und auch die Quartierbewohner mussten beim Heimkehren von der Arbeit am Eingang des Sperrgebiets mit Wartezeit rechnen. An den Tagen der beiden Konzerte war die gesperrte Zone nur für die Glücklichen mit den Tickets geöffnet. Die Quartierbewohner durften das Sperrgebiet natürlich betreten, aber sie mussten sich auf Verlangen ausweisen können. Dienstleistungen wie Müllabfuhr und Strassenreinigung konnten für die Dauer der Sperrung nicht gewährleistet werden.
Staudenmann ordnete all diese Einschränkungen nicht leichtfertig an. Doch er hatte sich alles gut überlegt, und ausserdem, auf seine Initiative hin, war er mit zwei Kollegen ins Ausland gereist, um aus den Sicherheitsdispositiven bei Swift-Konzerten in anderen Städten die nötigen Schlüsse für Zürich zu ziehen. Über die Recherchen vor Ort sprach er gern, denn das zeigte doch, wie seriös er sich vorbereitete.
Natürlich musste er damit rechnen, dass sich aus dem Quartier kritische Stimmen gegen die Einschränkungen erhoben. Deshalb organisierte er eine Orientierung, an der auch Anwohner ihre Fragen einbringen konnten. Geduldig und freundlich erklärte er die Notwendigkeit der getroffenen Massnahmen – stets im Wissen, dass es hier nicht um Mitbestimmung, ja nicht einmal um Mitsprache ging, sondern lediglich darum, mögliche Ängste und Sorgen zu lindern und zu beruhigen. Auch der Quartierverein durfte seine Einwände äussern, doch der Entscheid für das Ausmass der Sperrung und ihre Folgen lag allein bei der Stadtpolizei – und damit bei Staudenmann.
Das schöne Gefühl, Kompetenz und Entscheidungsgewalt in den Händen zu haben, hatte der Kaderbeamte schon bei früheren Grossanlässen erlebt. Aber diesmal kleidete ihn seine Rolle besonders gut. Ein ganzes Quartier vier Tage lang abzusperren, war nicht jedermanns Sache. Staudenmann konnte das.
*
Die vorangegangenen Tage der Planung hatten den 45jährigen Mann viele Überstunden gekostet. Am Abend vor dem ersten Konzert war es ein weiteres Mal ziemlich spät geworden, bis er nach Hause kam. Kathrin, seine Frau war noch wach, und er sagte zu ihr, sehr zufrieden mit sich:
«Ich glaube, wir haben jetzt alles unter Kontrolle. Taylor Swift und die Fans können kommen.»
Kathrin, die ihren Mann nun seit Tagen unter ständigem Druck erlebt hatte – wofür sie angesichts seiner Stellung durchaus Verständnis empfand –, war vielleicht nicht mehr ganz so geduldig wie am Anfang der Planung für das Konzert. Sie war es auch deshalb nicht mehr, weil sie im betroffenen Viertel als Lehrerin arbeitete. Sie hatte hautnah mitangesehen, wie sich die Sperrung entwickelte. Auch den Ärger im Quartier hatte sie mitbekommen, und so entgegnete sie ihrem Gatten:
«Die Leute in der Umgebung des Stadions finden die ganze Sache nach wie vor total übertrieben. Und ich ehrlich gesagt auch, das weisst du. Ich denke noch immer, eine Schuhnummer kleiner hätte genügt. Und ich hab’ dir das auch gesagt.»
Es war der falsche Moment, so etwas zu äussern, denn ihr Mann war müde von all den Stunden im Büro und hungrig wahrscheinlich auch. Doch seiner Frau war es egal. Sie musste ihre Gedanken loswerden, die sie mit sich herumtrug. Diesmal hatte sie keine Lust, seinen Stress zu entschuldigen.
Wie sie erwarten konnte, reagierte Staudenmann ungehalten. «Muss ich mir das jetzt anhören? Du weisst, ich mache das nicht aus Vergnügen. Es ist mein Job. Ich hätte nur allzu gern auf das ganze Theater verzichtet. Dem Quartier zuliebe. Ja, und auch dir zuliebe. Aber ich war nun einmal verantwortlich. Und ich möchte, wenn etwas geschehen würde, nicht hören wollen, ich hätte die Frage der Sicherheit zu wenig beachtet. Darum geht es nun einmal. Nur darum.»
Sicherheit war das Reizwort. Auch für Kathrin. Damit konnte ihr Mann alles rechtfertigen. Sie hatte das Wort zu häufig gehört. Nicht nur von ihm. Immer ging es überall um die Sicherheit. Kathrin war empfindlich geworden auf dieses Wort – allergisch sogar. Und sie wusste auch, dass es nicht stimmte.
«Es geht dir nicht um die Sicherheit. Es geht dir um die Kontrolle. Du liebst die Kontrolle. Du liebst es, wenn du entscheiden kannst. Und wenn dir jemand im Weg steht, redest du von der Sicherheit. Weil die Sicherheit heilig ist. Ich kann das Wort nicht mehr hören.»
Der Abend endete unerfreulich. Kathrins Worte hatten gereicht, dass ihr Mann auf sein Werk nicht mehr stolz war. Sie machte es wertlos. Sie trat mit Füssen, woran er glaubte. Schweigend, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, gingen sie später zu Bett. Beide wussten, dass der Konflikt nicht mehr aufschiebbar war. Sie mussten reden. Ernsthaft.
Es gab keine Sicherheit mehr.
Die nächste Podcast-Kolumne folgt nach der Sommerpause am 22. August.
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