Frankoskop: über sympathischen Individualismus

Tout va très bien, alles läuft bestens! Vielleicht löst dieser Satz bei Ihnen Erinnerungen an ein weltbekanntes französisches Lied aus: «Tout va très bien, Madame la Marquise!» Man schrieb das Jahr 1935. Die Weltwirtschaftskrise dauerte schon sechs Jahre an. Ein Ende war nicht abzusehen. Man spürte, dass Europa sich auf einen zweiten grossen Krieg zu bewegte. Da schrieb Paul Misraki sein Lied, das in der Interpretation von Ray Ventura zu einem Welterfolg wurde. Wovon handelt das Lied? Eine reiche adlige Dame weilt in den Ferien und erkundigt sich telefonisch bei ihrem Personal über die Situation zu Hause in ihrem Schloss. – Was gibt es Neues, James? – Alles läuft bestens, Madame. Nur ist leider die graue Stute gestorben. – Mein Pferd tot? Wie hat das geschehen können? – Oh, ganz einfach! Es ist bei einem Brand umgekommen, der den Pferdestall zerstörte. Aber sonst läuft alles bestens! – Was muss ich hören? Der Pferdestall abgebrannt? – Ach, das erklärt sich leicht! Als ein Feuer Ihr Schloss zerstörte, brannte eben auch der Pferdestall ab. Aber sonst läuft alles bestens! – Mein Gott! Das Schloss vom Feuer zerstört! Warum denn? – Ach, wissen Sie! Als Ihr Gatte erfuhr, dass er ruiniert war und sich deswegen das Leben nahm, riss er leider beim Umfallen alle brennenden Kerzen mit sich und setzte so das Schloss in Brand. Aber sonst läuft alles bestens!
Die altmodische Melodie und der scheppernde Ton der Aufnahme von 1935 können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lied heute wieder eine beklemmende Aktualität hat. Nachzuhören auf http://tinyurl.com/alleslaeuftbestens
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Was kommt nach dem Neoliberalismus? Worauf können wir hoffen? Dürfen wir überhaupt noch hoffen, wenn neoliberale Meisterdenker die ganze Menschheit zum Egoismus verpflichten wollen? Der französische Philosoph Dany-Robert Dufour gibt darauf in seinem neuen Buch «L'individu qui vient» (das kommende Individuum) seine persönliche Antwort. Er setzt seine Hoffnung auf die «Néorésistants», die neuen Widerständigen. Was muss man sich darunter vorstellen? Um die Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen.
Dufour zeigt auf, wie der Liberalismus und sein böses Kind, der Neoliberalismus, den Egoismus der Menschen als zentralen Motor unseres Wirtschaftens entdeckt haben. Die Grundformel lautet: Je eigennütziger ich handle, desto mehr trage ich zum allgemeinen Wohlstand bei. Dieser Glaubenssatz liegt der Wirtschaft seit Jahrhunderten zugrunde. Aber nicht nur das! Er ist für viele zum Motto für ihre Lebensgestaltung geworden: «Das Leben dient ausschliesslich meinem Lustgewinn, und das ist gut so!» Man müsste beifügen, dass dieses Motto uns ins Chaos geführt hat, das wir alle kennen.
Was ist zu tun? Für Dufour ist die Antwort klar: Widerstand leisten! Und er stellt dem neoliberal formatierten Egoisten das Bild eines Menschen gegenüber, der fähig ist zum Widerstand. Dufour spricht von sympathischem Individualismus. Der sympathische Individualist orientiert sich in seinem Handeln an Kants kategorischem Imperativ. Dieser besagt, dass wir uns selbst und die anderen nicht als Mittel zur Verwirklichung unserer Ziele behandeln sollen. Eine solche Ethik muss Folgen haben. Dufour fasst diese Folgen am Schluss seines Buchs in Form von dreissig Vorschlägen zur praktischen Umsetzung des sympathischen Individualismus zusammen. Ein Beispiel: Sympathische Individualisten, sagt Dufour, haben sich vom Wachstumsglauben verabschiedet, weil dieser für die Menschheit eine tödliche Gefahr darstellt. Sie arbeiten an der Gestaltung einer Gesellschaft ohne Wachstumszwang. Dany-Robert Dufour, L'individu qui vient, éditions Denoël, Paris 2011. Für die Lektüre sind gute Französischkenntnisse erforderlich.

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Und plötzlich begegnet man auf Schritt und Tritt sympathischen Individualisten. Erinnern Sie sich an Martial Leiter, den Zeichner aus Fleurier (NE) mit den feinen Rasterstrukturen? Lange publizierte der heute 60-Jährige seine Cartoons in international bekannten Zeitungen wie «Le Monde»: Dort sind sie heute kaum mehr zu finden. Aus Kostengründen, so ist zu vernehmen. Vielleicht gibt’s noch eine andere Erklärung. Leiters Zeichnungen beschönigen nichts und passen schlecht in Zeitungen, die manchmal schwer erträgliche Tatsachen gefiltert wiedergeben, um sie erträglicher zu machen. Das tun heute viele Zeitungen. Die Leserzahlen würden sonst sinken. Das hätte Folgen für die Werbeeinnahmen. Das wiederum könnte die Existenz der Zeitung gefährden. Zumeist bezeichnen sich solche Medien als unabhängig ... Wer sich Leiters eindringliche Cartoons «zumuten» will, hat jetzt dennoch Gelegenheit dazu. Das Cartoonmuseum Basel zeigt bis zum 17. Juni eine Werkschau von Leiter. www.cartoonmuseum.ch
 
Un beau départ – viel besser als Martial Leiter hätte man den Start der Europäischen Gemeinschaft 1991 nicht illustrieren können.
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Eine Lebensgeschichte, spannend wie ein Roman, und wahr. Ein junger Jude, Adolfo Kaminsky, versteckt sich mitten im von den Deutschen besetzten Paris und stellt in seinem Labor falsche Papiere her. Er arbeitet wie besessen und rettet Tausende von Menschenleben. «Wach bleiben», sagt er sich, «so lange wie möglich. Die Müdigkeit niederringen. Die Rechnung ist einfach: In einer Stunde kann ich 30 falsche Ausweise herstellen. Wenn ich eine Stunde schlafe, sterben 30 Menschen.» Nach dem Krieg kann er mit dieser Arbeit nicht aufhören. Zu viele Menschen auf der ganzen Welt sind in Gefahr, wenn er ihnen nicht hilft. Er verdient kein Geld mit dieser Arbeit. Sein Gewissen verbietet ihm das. Was er zum Leben braucht, verdient er sich als Fotograf. 29 Jahre verbringt er damit, als Fälscher Leben zu retten. Eines Tages, als nunmehr 46-Jähriger, realisiert er, dass er jetzt selbst in Gefahr ist. Er gibt seine Fälscherexistenz auf, reist nach Algerien, heiratet und wird ein glücklicher Familienvater. Später erzählt er seiner Tochter sein Fälscherleben. Daraus wird ein Buch, das 2011 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sarah Kaminsky, Adolfo Kaminsky, ein Fälscherleben, Kunstmann-Verlag, München 2011.

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Die junge Frau hat eine Stimme wie Barbara. Aber wer ist Barbara? Vielleicht haben Sie dank Ihres Jahrgangs «schon ein wenig den Überblick» und erinnern sich noch an die berührenden, poetischen Chansons von Barbara, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren Erfolg hatten. Die jüdische Sängerin Monique Andrée Serf (1930-1997) hatte sich als Kind mit ihren Angehörigen im besetzten Frankreich verstecken müssen. 1964 schrieb und sang sie bei einem Gastspiel in Göttingen ihr Chanson über Versöhnung. Es trägt den Titel «Göttingen». Nachzuhören auf http://tinyurl.com/harmonisch. Aber ich wollte von der Sängerin schreiben, deren Stimme an Barbara erinnert. Sie heisst Fleur. Das ist ihr wirklicher Vorname, nicht ein Pseudonym. Sie ist 37-jährig, wohnt in Paris. Sie nennt sich «La Parisienne libérée» und singt politische Lieder. Zum Beispiel «Le maïs OGM est bon pour la santé» (Gentechmais ist gesund). Sie schafft es, brisante aktuelle Inhalte in eine leicht nostalgische Form zu verpacken. Alle ihre Lieder sind kostenlos verfügbar auf ihrer Website www.laparisienneliberee.com. Eine Entdeckung! Wer immer im Mai Frankreichs neuer Präsident wird, die Parisienne libérée wird viel zu singen haben.