Frieden
Gedanken zur Erneuerung der globalen Friedensgemeinschaft, des Friedensbewusstseins und des Friedensnarrativs in unserer Zeit
Friedensdemonstration, Foto: Alice Donovan Rouse
Friedensdemonstration, Foto: Alice Donovan Rouse

Ich habe die letzten paar Tage damit zugebracht, über den Krieg im Iran einen Essay zu schreiben und wieder neu zu schreiben, hab ihn weggelegt und von vorn begonnen. Jetzt habe ich drei halbfertige Versionen. Währenddessen rückt die Welt mit jedem Tag näher an die Katastrophe. Ein Teil von mir denkt, wenn ich nur das Richtige tun würde – ich weiss, ich werde einen Artikel schreiben! – dann könnte dieser Krieg aufhören.

Das zu denken, ist natürlich ziemlich grössenwahnsinnig und lässt mich eine ziemliche Bürde schultern. Aber wer weiss? Vielleicht würde meine Bemühung, wenn ich mein ganzes Herz und meine Seele in die Waagschale lege, doch das Geschehen entscheiden verändern. Ich stelle mir vor, wie tausend Leute alle miteinander einen Felsbrocken zu bewegen versuchen. Ich kann keinen Felsbrocken bewegen. Aber was wäre, wenn sie ihn schon fast am Kipppunkt hätten, und er fällt um, wenn ich jetzt auch mit aller Kraft schiebe?

Aber vielleicht ist es ganz anders. Vielleicht kann der Felsbrocken nicht durch Schieben bewegt werden. Vielleicht erfordert die Lage etwas völlig anderes.

Bleiben wir misstrauisch gegenüber jedem inneren Narrativ, das uns selbst eine Art von Heldenstatus verleiht. Wenn ich die Verantwortung auf mich nehme, einen Krieg oder einen Genozid zu beenden oder eine Bewegung in Gang zu setzen, dann setze ich weit grössere Kräfte voraus, als ich sie besitze, und ein Wissen, das über meinen Horizont geht. 

Viele Menschen glauben, sie wüssten die Lösungen für die Probleme der Welt. Zweifellos haben manche von ihnen grosse Kenntnisse. Die allermeisten Probleme der Welt wurzeln jedoch in den Lösungen für vorherige Probleme. Wie Yeats es in «Die Wiederkunft» so treffend sagte: «Die Edlen lähmt erloschner Glaubenssinn, Glut der Inbrunst macht die Wilden heiss.» [http://www.luxautumnalis.de/william-butler-yeats-second-coming/]

Ich trete also einen Augenblick lang von der Dringlichkeit zurück, die mich die letzten paar Tage gepackt hat, die Dringlichkeit, die ungefähr so hiess: «Ich muss alle Hebel in Bewegung setzen, in den höchsten Gang schalten und etwas gegen den Irankrieg unternehmen.» 

Rückzug bedeutet nicht hilflose Untätigkeit angesichts der Weltlage. Ich bin hier – wir alle sind hier – , um zur Entfaltung von Leben und Schönheit auf Erden beizutragen. Aber der Irankrieg ist keine plötzliche, unvorhersehbare Krise. Er, oder etwas in der Art, ist ein unvermeidlicher Ausdruck vorherrschender Mythen, Geschichten und Psychen; von Geldsystemen und Technologien; von ererbten Traumata und Verlusten – und von der politischen Lage, die aus all dem entstanden ist. Er ist das unvermeidliche Ergebnis einer aussenpolitischen Orientierung und einer Weltsicht, die die Regierungsstäbe der Republikaner wie auch der Demokraten seit mindestens 1963 aufgebaut haben. 

Wir können wie wild ein Feuer nach dem anderen löschen. Wenn wir aber in unserer Eile vergessen, auf die Bedingungen zu blicken, die das Feuer überhaupt erst zum Ausbruch gebracht haben, kämpfen wir eine unendliche Schlacht. Um im Bild zu bleiben: Es gibt immer öfter katastrophale Waldbrände. Wir kaufen mehr Lösch-Hubschrauber, füllen die Wasserreservoirs auf und versetzen die Bevölkerung in Daueralarm. Aber werfen wir einen Blick hinter die unmittelbare Krise? Recherchieren wir über indigene Waldpflegemethoden? Fragen wir nach, wie die Ausrottung des Bibers und der Spitzenraubtiere den Waldhaushalt verändert hat? Betrachten wir die Auswirkungen von Bodenerosion und Grundwasserschwund?

codepinkIch wandte mich an meine Freundin Jodie Evans, eine der Gründerinnen von Code Pink, die 55 Jahre Erfahrung als Friedensaktivistin hat. Eins, was ich aus dem Gespräch mitgenommen habe (und versteht bitte, dass dies nicht Jodies Worte sind, sondern nur meine letztlich ungenaue Interpretation dessen, was ich davon verdaut habe), ist, dass wir diesen Krieg nicht beenden können. Er wurde schon vor Langem in den Kuchen eingebacken. 

Wenn wir jetzt verkünden, dass er beendet werden muss, nähren wir eigentlich die Illusion, dass wir ihn beenden können – und missverstehen, womit wir es hier zu tun haben. Wenn dieser Krieg eine Art dummen Irrtums wäre, könnten wir mit den Mächtigen vielleicht vernünftig reden. Aber er ist kein Irrtum. Er ist eine Folge dessen, wie Macht an sich funktioniert. Wir haben eben nicht die Macht, ihn zu beenden, nicht zu diesem späten Zeitpunkt. Tun wir also nicht so, als hätten wir sie. Täuschen wir nicht ein Heldentum vor, das über unsere Kräfte geht. Wir müssen realistisch sehen, wie die Welt funktioniert.

Wir haben nicht die Macht, den Irankrieg zu beenden. Aber wir haben eine sogar noch grössere Macht, die auf längere Sicht wirkt. Jodie sagt, dass wir Friedensgemeinschaften gründen müssen, lokale und globale Gruppen, die Friedenspraktiken üben, miteinander lernen und sich miteinander mobilisieren. Ja, Code Pink engagiert sich in direkter Aktion und Protesten, aber diese wurzeln in einer Basis, die schon seit Jahrzehnten entsteht. Sie kleistern das nicht alles erst dann zusammen, wenn ein Krieg ausbricht. Sie nehmen an Massenmobilisierungen teil, aber sie erschaffen sie nicht aus dem Nichts.  Denn sie haben verstanden: Wir erschaffen Bewegungen nicht. Sie erschaffen uns. Sie entstehen nicht von aussen durch unseren Anschub, egal wie stark er sein mag. Sie entwickeln sich organisch, und wir machen mit. Und wenn wir gut vorbereitet sind, tragen wir sie vielleicht.

Diesen Waldbrand können wir nicht aufhalten. Der Wald wurde schon während eines ganzen Jahrhunderts von Misswirtschaft und falscher Behandlung zum Pulverfass gemacht. Aber vielleicht können wir all die aufhalten, die danach folgen würden.

Dem Stichwort Friedensgemeinschaft würde ich gern zwei einander ergänzende und bereichernde Elemente hinzufügen: Friedensbewusstsein und Friedensnarrativ. Das Friedensbewusstsein ist die innere Arbeit, die Kriegs-Denkgewohnheiten zu verändern. Es gehört zur gegenseitigen Bereicherung innerhalb einer Friedensgemeinschaft, denn eine solche Arbeit geht am am besten im täglichen Üben einer solchen Gemeinschaft. 

Ein Friedensnarrativ stützt sowohl die Gemeinschaft als auch die innere Arbeit, indem es eine auf Frieden ausgerichtete Welt anschaulich und voller Sinn zeigt. Viele grundlegende Annahmen, was real ist und wie die Welt funktioniert, sind in Wirklichkeit, auch wenn sie sich als wissenschaftliche Wahrheiten oder Tatsachen der menschlichen Natur darstellen,  nur Geschichten. Kriege sind ein unvermeidlicher Auswuchs solcher Geschichten. Es hilft, sie zu durchdringen und zu hinterfragen. Denn wenn wir sie unbewusst weiter als Realität behandeln, giessen wir damit Öl in das Feuer, das wir eigentlich löschen wollen. Zum Beispiel indem wir die Aggressoren in einem Konflikt, der aus Entmenschlichung entstanden ist, entmenschlichen.

Gegenwärtig ist die Friedensgemeinschaft noch weit entfernt von so etwas wie einer Bewegung, und ihre internen Spaltungen verhindern, dass ein Friedensnarrativ greifen könnte. Ein riesiges Kontingent an Antikriegs-Öffentlichkeit verliess 2024 die Demokraten wegen deren Medientyrannei, Missachtung von Bürgerrechten und genereller Komplizenschaft mit der Agenda des Tiefen Staates – samt dem dazugehörigen militärischen Imperialismus. Es fällt schwer, mit Kräften zusammen zu arbeiten, die einen angriffen, als man sich der Konzern-Regierungs-Macht entgegenstellte. 

Heute werfen diejenigen, die der Demokratischen Partei die Treue gehalten haben, uns vor, Donald Trump gewählt zu haben. Es fällt schwer, mit Kräften zusammen zu arbeiten, die anscheinend nicht verstehen, dass Frieden unvereinbar ist mit der entmenschlichenden Behandlung von Migranten oder einem unsäglichen «Amerika first»-Chauvinismus.

Wenn man über Frieden schreibt, besteht immer die Versuchung, sprachlich etwas einzuflechten, das der einen oder der anderen Gruppierung versichert, dass diese Botschaft von einer annehmbaren Quelle kommt. Ich kann der einen Seite Annehmbarkeit signalisieren, indem ich eine höhnische Bemerkung über Mr. Trump mache. Ich kann einer anderen Gruppe Annehmbarkeit signalisieren, indem ich seinen Vorgänger verunglimpfe. Ich kann vielsagende Hinweise fallen lassen in Bezug auf Kapitalismus oder weisse Vorherrschaft oder Wokesein oder «Gender-Ideologie» oder Medizinfaschismus oder jegliche Themen, die meine Positionierung und somit meine Annehmbarkeit begründen. Dann hört vielleicht dieser Haufen zu – aber der andere nicht. Und wenn ich beide beschwichtige, dann mache ich mich zum Zaungast und Vertreter beider Seiten.

Nebenbei bemerkt: Die Geisteshaltung, die zuallererst schaut, «auf welcher Seite» jemand steht, ist das Gegenteil von Friedensbewusstsein.

Eine Friedensbewegung in Gegenwart dieser Spaltungen zusammen zu bringen, ist wie einen Zauberwürfel zu lösen, bei dem einige Quadrate in der falschen Farbe angemalt sind: Er ist unlösbar. Das lässt die Frage aufkommen: Kann in der gegenwärtigen politischen Debatte irgendetwas Brauchbares gesagt werden? Oder warten wir ab, bis die Kriegsparteien aus den Trümmern kriechen, die sie selbst verursacht haben, und dann bereit sind, ganz anders zuzuhören?

Manche werden sagen: «Sprich einfach deine Wahrheit aus.» Klar. Aber wie Henry David Thoreau schrieb: «Um die Wahrheit auszusprechen, braucht es Zwei: einen, der spricht, und einen, der hört.» Haben wir überhaupt noch eine gemeinsame Sprache? 

Es ist fast zehn Jahre her, als mir auffiel, dass die Gesellschaft sich in vielfältige, einander ausschliessende Realitäten spaltete. Diese Entwicklung ist seither nur noch ausgeprägter geworden. Wir leben in einer Babel-Gesellschaft der Art, wie sie die Bibel beschreibt, wo das Bauprojekt ins Stocken gerät, weil die Bauarbeiter einander nicht mehr verstehen können. 

Schön und gut, meine Wahrheit aussprechen, ja ...  aber in welcher Sprache spreche ich sie aus? Ich kann sie in die Sprache der Intersektionalität übersetzen, in die Sprache des Postkolonialismus, die Sprache des Christentums, die Sprache des Anti-Wokeismus, des Libertarianismus, des Buddhismus, in jegliche Sprache. Aber ich kann sie nicht in alle Sprachen  auf einmal übersetzen.

In solch einem Dilemma befinden sich viele von uns. Auf der persönlichen Ebene liegt die Lösung darin, auf die Universalsprache hinter allen anderen Sprachen zurückzugreifen, die Sprache des Herzens. Lieber Fragen stellen als Antworten liefern. Lieber Geschichten erzählen als Argumente vorbringen. Lieber Raum für Entwicklung gewähren als den Wandel gewaltsam durchdrücken.

Dies sind zufällig auch Friedenspraktiken. Man strebt nicht nach Überlegenheit über andere in einem Wettbewerb intellektueller Stärke. Die Debattensprache quillt über vor militärischen Bildern: deine Argumente unterminieren, durch deine Verteidigungslinien brechen, meine Position verteidigen …

Sollte die lange, bedächtige Arbeit, eine Friedensgemeinschaft, ein Friedensbewusstsein und ein Friedensnarrativ zu schaffen, nicht lieber warten, bis die unmittelbare Krise vorbei ist? 
Ist die Lage nicht dringend? Sie ist nicht dringender, als sie immer war. Wir nehmen es nur stärker wahr. Dieser Krieg erinnert uns daran, dass sie immer dringend war. Es war immer dringend, etwas wegen genau der Lage zu tun, die heute in unser Bewusstsein dringt.

Worin besteht die «Lage», die normalerweise unterhalb der bewussten Wahrnehmung liegt? Sie ist alles. Sie ist der Zustand der Welt und all ihrer Menschen. Es ist die unvollendete Entwicklung unserer Seelen, wegen deren Vervollständigung wir hier her gekommen sind. Die Geschichte von Getrenntheit, Herrschaft, Mangel und Aufstieg. Der «Drang» der Dringlichkeit ist der Impuls, Liebe überall dorthin zu bringen, wo sie vergessen wurde. Aus der Illusion des Getrenntseins zur Ganzheit zurückzukehren. Der Krieg ist nicht die Abweichung von einer annehmbaren Normalität. Er ist ein Weckruf, dass diese Normalität unannehmbar ist. 



Übersetzt und korrekturgelesen von Ingrid Suprayan und Christa Dregger. Die englische Originalfassung dieses Essays vom 20. Juni 2025 – «Peace» – finden Sie hier.

CharlesEisenstein

CharlesEisenstein

Charles Eisenstein (* 1967) ist ein US-amerikanischer Kulturphilosoph und Autor. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Vortragsredner und freier Dozent. Er gilt als wichtiger Theoretiker der Occupy-Bewegung.

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