Friedenskonzept Multipolarität - über die Shanghai Cooperation Organisation
Im 2. Teil der Betrachtungen über die geopolitischen Spannungen geht es um die Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Ihre Konzepte stehen im diametralen Gegensatz zu den westlichen Denkansätzen, sie propagieren Harmonie statt Hegemonie.
Im ersten Teil meines Textes über die geopolitischen Spannungen zwischen den Bündnissen des angloamerikanischen Westens und dem Globalen Süden hatte ich über die Krise der NATO und ihre Vorstellung, diese mit Expansion und Krieg zu überwinden, geschrieben. Diese sind Teil der amerikanischen Weltmachtfantasien, wonach die USA die einzige unverzichtbare Nation sei.
Im 2. Teil geht es, wiederum exemplarisch, um die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), deren Konzepte im diametralen Gegensatz zu den westlichen Denkansätzen stehen. Nicht Konfrontation, sondern ein Geist der Kooperation prägte das 24. Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs der SCO, das am 4. Juli 2024, also fünf Tage vor Beginn der NATO-Konferenz in der kasachischen Hauptstadt Astana zu Ende gegangen war. Der Ordnung halber muss ich erwähnen, dass die Abkürzung SCO im Deutschen oft als SOZ, also Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, benutzt wird. Sie war vor mehr als 20 Jahren als regionale Organisation nach dem Ende der Sowjetunion entstanden und sollte Sicherheit und Stabilität im zentralasiatischen Raum gewährleisten. Mit ihr wollten die Gründerstaaten den zentrifugalen Tendenzen dieser Zeit, von Separatismus über Extremismus bis zum Terrorismus, entgegentreten.
Vor der Jahrtausendwende waren das die fünf Staaten Russland, China, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Im Jahr 2001 schloss sich mit Usbekistan ein weiterer «stan»-Staat an. Übrigens ein Begriff, der in den westlichen Systemmedien keine Verwendung findet, obwohl diese Staaten immer enger zusammenrücken. Das hat nicht nur ethnische Hintergründe, sondern hat auch mit dem Konzept der Seidenstrasse Chinas zu tun.
Die SCO-Staaten schlossen also erste Abkommen über vertrauensbildende Massnahmen und militärische Zusammenarbeit. Eine substanzielle Erweiterung fand erst 2017 mit dem Beitritt von Indien und Pakistan statt, die 2023 mit der Vollmitgliedschaft des Iran ihre Fortsetzung fand. Den politisch bedeutsamen Schritt zur eurasischen Organisation gab es aktuell in diesem Monat, am 4. Juli 2024, als Belarus, also ein europäischer Staat, aufgenommen wurde. Neben den Vollmitgliedern gehören der SCO zwei Beobachter (Afghanistan und die Mongolei) und 14 Dialogpartnerstaaten an, darunter Aserbaidschan, Bahrain, Katar, VAR, Nepal, Kambodscha, die Türkei und Ägypten.
Neben der Tatsache, dass die SCO sich zur eurasischen Organisation entwickeln konnte, spielt die Zusammenarbeit mit einer weiteren Organisation, nämlich den BRICS, eine grosse Rolle. Diese ist jünger und hat ihren Schwerpunkt weniger im sicherheitspolitischen Bereich, sondern konzentriert sich auf wirtschaftliche Fragen, vorrangig der Finanz- und Währungssysteme.
Die BRICS waren von Anfang an nicht als ein regionaler Zusammenschluss, sondern global konzipiert worden. Es ist völlig klar, dass beide Organisationen das Ziel einer gerechteren und multipolaren Welt anstreben und die US-Pläne einer Weltherrschaft grundsätzlich ablehnen. Eine neue Ordnung, so heisst es in der Erklärung der Tagung vom 4. Juli 2024 in Astana, sollte auf den «Grundsätzen des Völkerrechts, der kulturellen und zivilisatorischen Vielfalt und der gleichberechtigten und vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen den Ländern beruhen, und die Vereinten Nationen sollten eine zentrale koordinierende Rolle spielen». Eine Gegenposition zur «rule based order» des US-Imperiums.
Auf der Tagung des Rates der Staatschefs der SCO in Astana bezeichnete Wladimir Putin sie und die BRICS als wichtige Pfeiler der entstehenden neuen Weltordnung. «Diese Verbände spielen die Rolle einer mächtigen Lokomotive für den globalen Entwicklungsprozess und die Schaffung einer echten Multipolarität», so der russische Präsident.
Gleichzeitig sind die führenden Vertreter der SCO der Ansicht, dass Reformen erforderlich sind, um die Autorität der Vereinten Nationen wirksam werden zu lassen. Die einseitige Dominanz der angloamerikanischen Staaten bzw. der ehemaligen Kolonialmächte müsse endlich beendet werden. «Es ist wichtig, die Vertretung der Entwicklungsländer durch eine umfassende Reform der UNO sicherzustellen», heisst es dazu in der Erklärung von Astana.
Das westliche Narrativ behauptet seit Gründung der UN im Jahr 1945, diese sei demokratisch und die Mitglieder gleichberechtigt. Doch das ist mitnichten der Fall. Das Vetorecht der ständigen Vertreter im UN-Sicherheitsrat ist ein Instrument westlicher Dominanz. Es ist das Erbe des Zweiten Weltkrieges und hat vor allem den USA eine Nachfolge und Fortsetzung der Kolonialpolitik der Briten ermöglicht.
Erst in diesen Jahrzehnten ist das heutige US-Imperium entstanden. Vom Koreakrieg bis zum gegenwärtig laufenden Gaza- und Ukrainekrieg sind es rund fünfzig Kriege, mit denen die Amerikaner ihren Weltmachtanspruch durchsetzen bzw. immer wieder behaupten konnten. Die bisherige Konstruktion der UN hat dies nicht verhindert. Sie hat nicht zu einer Auflösung der ehemaligen Kolonialreiche, sondern zu einer Umwandlung in postkoloniale Abhängigkeiten geführt. Die Kritik der Länder des Globalen Südens bestand schon immer, aber im Westen wurde sie immer als unreif und ungerechtfertigt abgetan.
Erst mit dem wirtschaftlichen Erstarken ehemaliger Kolonien wie Indien, Brasilien, Südafrika, Iran und einigen arabischen Staaten, vor allem aber Chinas und dem damit ursächlich verbunden Abstieg der ehemaligen Industriemacht USA und der alten europäischen Kolonialmächte, konnte sich eine neue Bewegung im Kampf für Befreiung und Entkolonialisierung entwickeln. Sie war nicht mehr kriegerisch oder revolutionär geprägt.
Dazu hat auch der Untergang der Sowjetunion beigetragen. Diese hatte zwar in den 1950er und 1960er Jahren die erste Versuche der Entkolonialisierung unterstützt, aber mit dem Konzept einer proletarischen Weltrevolution wenig zur Entwicklung und Emanzipation der ehemaligen Kolonien beigetragen. Stattdessen waren diese in den folgenden Jahrzehnten in neokolonialistischen Regimes stecken geblieben und mussten die fortgesetzte Ausbeutung ihrer Ressourcen hinnehmen. Die Sowjetunion selbst wurde zum «failed state» und löste sich auf.
Auch wenn die SCO unter Sicherheitsaspekten gegründet worden war, lehnte sie eine Politik der Einmischung und des militärischen Eingreifens ab. Mit dem Ende des Maoismus wurde eine freundschaftliche, gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Ländern Zentralasiens und Afrikas entwickelt. Daraus entstand das Konzept der Seidenstrasse. Peking stellte Kredite für den Ausbau der zentralasiatischen Infrastruktur zur Verfügung und förderte die Industrialisierung, den lokalen Wohlstand sowie den internationalen Handel.
Ohne die Absicherung durch die SCO wäre dies nicht machbar gewesen. Auf dem eurasischen Kontinent wurden sechs Wirtschaftskorridore in Angriff genommen und in Infrastrukturprojekte – Eisenbahnlinien, Strassen, Energieversorgungslinien und Pipelines – investiert. Gemeinsam mit den beteiligten Ländern, ihren Menschen und Unternehmen wurden Industriebetriebe, Sonderwirtschaftszonen und Handelsplattformen angesiedelt sowie der kulturelle Austausch gefördert.
Gleichzeitig stellen sowohl die neuen Transportverbindungen durch Zentralasien nach Europa, als auch die nach Südostasien mit der Anbindung von Häfen in Malaysia, Myanmar oder Pakistan leistungsfähige Alternativen zum Seetransport durch die Strasse von Malakka zum Suezkanal dar.
In Afrika waren von den Kolonialmächten nur Transportverbindungen zu Überseehäfen zur Ausplünderung der Bodenschätze gebaut worden. Ein innerafrikanischer Handel konnte sich so nie entwickeln. Mit der Politik der SCO und der BRICS entstand die Konnektivität zwischen den afrikanischen Ländern und damit eine zunehmende politische Unabhängigkeit. In den Jahren zwischen 2013 und 2023 wurden etwa 10.000 Kilometer Schienen der Normalspur, rund 100.000 Kilometer Strassen, 100 neue oder modernisierte Häfen und eine Vielzahl von Schulen und Krankenhäusern in Betrieb genommen.
Die Länder der Afrikanischen Union konnten ein innerafrikanisches Freihandelsabkommen vereinbaren. Dies sind nur einige Beispiele für eine mulitipolare Welt, wie sie von SCO und BRICS propagiert und angekurbelt wird. Es gibt in andere Teilen der Welt bzw. Erdteilen noch viel mehr Beispiele dieser friedlichen Dynamik. Sie wendet sich nicht gegen den Westen, will sich aber auch nicht den US-hörigen Institutionen Weltbank, IMF, WEF oder der Gruppe der G 7 unterwerfen.
Der Gedanke einer multipolaren Weltordnung wird im Westen nicht nur nicht verstanden, sondern erbittert bekämpft. Wir erleben das gegenwärtig auch in Deutschland, das wieder kriegstüchtig werden soll. Das liegt nicht daran, dass das Streben der Länder des Globalen Südens nach Befreiung schwer zu verstehen wäre. Auch die führende Rolle von China, Indien, Iran und Russland beinhaltet nichts Geheimnisvolles. Sie wollen sich nicht länger von den Amis bevormunden lassen.
Sowohl das US-Imperium wie die alten Kolonialmächte, die sich in die EU gerettet und den USA unterworfen haben, wollen diesen historischen Wandel nicht wahr haben. Sie glauben immer noch, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Das drückt sich im Globalisierungsstreben der NATO ebenso aus, wie in dem Versuch, die Europäische Union im Sinne des Great Reset zum totalitären Juniorpartner der USA umstricken bzw. umputschen zu wollen.
Die Vorstellung westlicher Neokonservativer, Russland erobern und in fünf leicht zu beherrschende Entitäten zerlegen zu können, zeugt von der Realitätsferne der Oligarchen des Westens. Vom Kampf gegen China soll hier gar nicht erst die Rede sein.
Die Existenz der SCO, die in Verbindung mit BRICS den eurasischen Raum dominiert und dort mit nahezu 50 Prozent der Weltbevölkerung auch über die wichtigsten Industrie- und Wachstumspotenziale verfügt, zeugt davon, dass die Vorstellungen der NATO, das eurasische Kernland zu erobern – Brzezinskis Theorie vom grossen Schachbrett wie auch Halford Mackinder‘s Heartland-Theorie, die 100 Jahre älter ist – grandios gescheitert sind.
Dass die Gipfeltreffen von SCO und NATO innerhalb einer Woche stattfanden, mag Zufall sein. Aber in ihrer zeitlichen Nähe werfen sie ein grelles Licht auf die absolut gegensätzlichen Entwicklungsrichtungen beider Organisationen. Das ist nicht alleine militärisch und ökonomisch gemeint. Mit dem Abstieg des Westen vergeht eine über 3.000 Jahre alte Dominanz von Kulturen, deren Kern monotheistische Religionen waren. Sie bildeten immer wieder den Antrieb zur Eroberung grosser Reiche. Das heutige US-Imperium ist nur das letzte in dieser Reihe.
Ich hatte anfangs vom Gegensatz der Philosophien beider Welten geschrieben, dem westlichen Konfrontationsstreben gegenüber dem Wunsch nach friedlicher Kooperation in der Mehrheit der Welt. Ich möchte deshalb mit dem Zitat eines westlichen Beobachters der SCO-Konferenz in Astana abschliessen:
Sie war geprägt von den fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Darunter versteht man den gegenseitigen Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität, den gegenseitigen Verzicht auf Aggression, die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie die Gleichberechtigung und den gegenseitigen Nutzen eines friedlichen Miteinander». Und er führte weiter aus, er habe dort das «Gefühl der Harmonie, der Zusammenarbeit und des Optimismus» gespürt. «Die Sprache der SCO-Konferenz unterscheidet sich fundamental von der des Westens; dort bezieht sich alles auf die Behauptung, die USA seien die Besten und alle anderen müsste man bekriegen, um sich vor ihnen zu retten.
Quellen und Verweise:
CRI Online, Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz
IPG-Journal, 5. Juli 2024, Alexandra Sitenko, Bereit für die ganz grosse Bühne, Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit strebt eine globale Friedensrolle an. Wie agiert Moskau?
Erklärung der SCO-Mitgliedsstaaten vom 4. Juli 2024, übersetzt mit Google Translate
Wikipedia.de, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit
Wikipedia, Die Heartland-Theorie
Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard, 1998 bei Amazon, hier vor allem der zusammenfassende Klappentext
Berliner Zeitung, 20.10.2023, Ramon Schak, Neue Seidenstrasse: Eine echte Win-win-Situation für China und die Teilnehmerländer
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