Früh auf Augenhöhe

Neugeborene Kinder sind auf Menschen angewiesen, die sie nähren und pflegen. Brauchen sie auch Hilfe beim Aufstehen- und Gehenlernen? Oder ist da Hilfe geradezu störend?

Die fünf Grundpositionen, aus denen jedes Kind in Übergangspositionen zum Aufstehen kommt. Illustration: Klara Pap

Schon Kleinkinder haben den starken Drang, möglichst bald buchstäblich auf Augenhöhe zu den Erwachsenen zu kommen. Emmi Pikler (1902-1984), eine ungarische Kinderärztin, hatte deshalb in ihrem Säuglingsheim «Loczy» die Pflegerinnen angewiesen den Kindern beim Aufstehenlernen nicht zu helfen. Sie hatte die Pflegerinnen selber ausgebildet um sicherzustellen, dass ihre innere Haltung den Kindern gegenüber stimmte. Die Kleinkinder sind alle aufgestanden und haben Gehen gelernt. Jedes zu seiner Zeit. Die Erwachsenen begleiteten sie achtsam und waren in Kontakt mit dem, was gerade los war. Sie liessen die Kinder in aller Ruhe da alleine probieren, wo die Eigeninteressen des Kindes spielten. In systematischen Beobachtungsstudien hatte Emmi Pikler die Bewegungsentwicklung von der Rückenlage  bis zum sicheren Stand analysiert. In einer Langzeitstudie konnte sie nachweisen, dass es allen Säuglingen gelang, selbständig von der Rückenlage über schlängelndes Rutschen auf dem Rücken, Kriechen, Krabbeln, Rutschen im Sitzen und zahlreichen anderen Übergangsformen zum Stehen und Gehen zu kommen. Weder die Positionen noch die Übergangsformen sind zufällig. Sie entspringen dem angelegten inneren Lernprogramm «Aufstehen zum aufrechten Gang».

Warum stört helfen?

Das Kind richtet sich so auf, wie es mit seinem Körper und mit der auf diesen wirkenden Schwerkraft zurechtkommt. Jede zusätzliche Aufrichtung aus  dem Liegen erfordert einen Zuwachs an Gleichgewichtsfähigkeit und muskulärer Spannung in der Stützmuskulatur. Erst wenn das alles stimmt, geht das Kind in die nächstfolgende Position. Unsere Hilfe zwingt das Kind in eine Haltung, die es ohne unsere Hilfe nicht einnehmen könnte. Es würde umkippen. Das spürt das Kind und wird verunsichert. Wenn es seine Aufrichtung selber entfalten kann, ist es jederzeit im Gleichgewicht und selbstsicher. Von uns braucht es den angepassten Raum und die Gegenstände, an denen es sich hochziehen kann. Und es braucht unsere Zurückhaltung.

Sind wir denn nutzlos?

Als Lehrerin war ich verunsichert, als ich das erste Mal mit der Methode des selbstorganisierten Lernens konfrontiert wurde. Ich musste auf ganz andere Weise wach sein, um den selbstgewählten Lernprozess der Lernenden begleiten zu können. Ich musste lernen, respektvoll in Kontakt zu bleiben. Nur da mitwirken, wo es nötig und richtig war. Ich lernte das Staunen über die anders verlaufenden Lernprozesse der Einzelnen. Zurückhaltung als Grundmuster und Präsenz waren gleichermassen gefordert. Kinder wollen erforschen und verstehen. Und sie wollen nicht unsere Puppen sein. Sie möchten machen, nicht nachmachen.

Das Kind nur zu begleiten, heisst nicht, es alleine zu lassen. Es bedeutet, dort das Kind in Ruhe zu lassen, wo es aus Eigeninteresse selbsttätig wird. Nicht stören. Kinder können ganz versunken sein in ihre Erforschung der Welt. Manchmal wollen sie es auch mit uns gemeinsam tun. Schön, wenn man das Eine vom Anderen unterscheiden kann.
Machen Sie ein Experiment und schauen Sie auf dem Spielplatz zu. Selten sehen Sie, dass die Kinder selbstständig spielen und die Eltern gleichwohl in Kontakt mit ihnen bleiben. Oft überlassen sie die Kinder sich selbst und koppeln sich ab. Manche heben die Kinder auf viel zu hohe Geräte, zerren sie dahin und dorthin,
helfen, wo es unnötig ist und sind oft ein liebevoller Störfaktor. Die Kinder kommen selten zu eigenem Tun.

Es geht auch anders

Luis durfte nach Piklers Ideen aufwachsen. In diesem Winter war er mit 2¼ Jahren der Hingucker auf der Piste. Leicht und sicher fährt er auf seinen Skiern den Hang runter. Er nimmt die Skier selber aus dem Skiständer, putzt die Bindung und zieht die Skier selber an. Schreien tut er eigentlich nur, wenn Papa helfen möchte.
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Anna Czimmek: Emmi Pikler – mehr als eine Kinderärztin. P. Zeitler Verlag, 2015.
www.pikler-verband.org, www.emmi-pikler.ch

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Mehr zum Thema «jung | alt» in  Zeitpunkt 156.

 

ZP-156