«The Games Must Go On»

50 – in Worten: fünfzig! – Jahre nach dem Überfall auf israelische Sportler bei der Münchner Olympiade und dem stümperhaften Versuch einer Geiselbefreiung lenken Verantwortliche gegenüber den Hinterbliebenen ein: Eine Entschädigungszahlung von insg. 28 Millionen Euro wird beschlossen und – jetzt, da die meisten Verantwortlichen nicht mehr leben – sollen Historiker verschiedener Seiten Einblick in die Akten erhalten und die Vorgänge aufarbeiten. Einige Spuren des Terrors, seiner Planung und Finanzierung führen in die Schweiz.

Am 5. September 1972, morgens um kurz nach 4 Uhr, steigen acht Männer mit grossen Taschen über den Zaun des Olympischen Dorfes. Die Mitglieder der palästinensischen Einheit «Schwarzer September» dringen in das unverschlossene Quartier der israelischen Gewichtheber und Ringer ein, erschiessen zwei Sportler und nehmen neun weitere als Geisel. Ihre Forderung: Freiheit für Baader-Meinhof, Freiheit für über 200 palästinensische Gefangene in Israel. Die Knesset lehnt die Forderungen ab. 20 Stunden später sind alle Geiseln, ein Polizist und fünf der Geiselnehmer tot. Dazwischen liegen Verhandlungen, Missgeschicke, Fehlentscheidungen – und jede Menge Ungereimtheiten.

Einen Tag später röhrt IOC-Chef Avery Brundage die berühmten Worte ins Mikrofon: Die Spiele müssen weitergehen. Hatte man schon gezittert, dass etwa aufgrund der Ereignisse das Sportfest unterbrochen oder gar abgebrochen werden müsse? Dass all die Vorbereitungen und gigantischen Kosten von fast 2 Milliarden DM umsonst gewesen waren und nur das Desaster in Erinnerung bliebe? Aber nein, keine Bange, auf das System kann man sich wie immer verlassen. The Games Must Go On, wurde zum geflügelten Wort für den Turbokapitalismus, der sich von keinem Leid, keinem Anschlag, keinem Protest aufhalten lässt. Die kürzlichen Erinnerungsveranstaltungen «50 Jahre Olympia» wären dann auch fast ohne Gedanken an die Tragödie vonstatten gegangen. 

Die Olympischen Spiele von München 1972 sollten besonders friedlich und heiter werden und Deutschland in der internationalen Wahrnehmung ein neues Gesicht geben: Nein, nein, man war nicht mehr das unmenschliche, hierarchische, militärische Nazi-Deutschland von 1936. Man war weltoffen, heiter und ein bisschen Blumenkind. Zehn Tage lang ging das Konzept auf. Polizisten feierten mit, begleiteten das Fest statt in Uniform in türkis-farbenen Freizeitanzügen, oft ohne Waffen und, wie sich später herausstellte, völlig unzureichend vorbereitet auf das, was kommen sollte. Denn trotz zahlreicher Terror-Warnungen, trotz erster Erfahrungen mit der RAF und Meldungen über palästinensische Protest- und Drohaktionen auf deutschen Flughäfen und obwohl erstmals auch Israel als Nation bei den Olympischen Spielen mit dabei war, beschäftigten sich die polizeilichen Sicherheitsarchitekten lieber mit gefälschten Eintrittskarten als mit terroristischen Drohungen. 

Man war nicht mehr das unmenschliche, hierarchische, militärische Nazi-Deutschland von 1936. Man war weltoffen, heiter und ein bisschen Blumenkind.

Es ist wahr, manchmal sind Weltereignisse von Pleiten, Pech und Pannen gesteuert. Aber hier auch? Deutschlands neues gewolltes Image: naiv, tolerant, pazifistisch – ist eine nicht sehr glaubwürdige Erklärung für die plumpe bayrische Provinzposse, die folgte. Alles ging schief, was schief gehen konnte. So wurde die geplante Stürmung der Polizei im Olympischen Dorf vom Fernsehen übertragen und damit auch den Geiselnehmern verraten – denn man hatte vergessen, ihnen den Strom auszuschalten. So wurden exakt fünf – in Zahlen: fünf! – unvorbereitete, nicht annähernd geeignet ausgerüstete, ohne Nachtsicht- oder Funkgeräten ausgestattete bayrische Streifenpolizisten als Scharfschützen in einer nächtlichen, unkoordinierten Geiselbefreiungs-Aktion am Flughafen Fürstelfeldbruck eingesetzt – wobei schliesslich sämtliche Geiseln, fünf Geiselnehmer und ein Polizist starben. Die immerhin drei überlebenden Geiselnehmer wurden dann nie vor Gericht gestellt, wodurch das Drama nie gerichtlich aufgearbeitet werden musste – sondern wenige Monate später durch eine weitere Geiselnahme freigepresst und nach Lybien ausgeflogen.

Fragen entstehen zudem, wenn man sich anschaut, wem das Ganze genutzt hat und welche Namen bei der Aufarbeitung auftauchen. Die Olympia-Attentate waren ja drei deutliche Botschaften für alle Friedensfreunde der Welt, und zwar: Pazifismus ist lächerlich und eignet sich nicht, um Frieden zu schaffen. Deutschland ist nach wie vor eine Bedrohung für Israel. Und: Arabern muss man misstrauen, zwischen Israel und Palästina wird niemals Frieden sein. 

Andreas von Bülow, ehemaliger Bundesminister und Mitglied der parlamentarischen Kontrollkommission für die Nachrichtendienste, schreibt in seinem Buch «Im Namen des Staates»: «Bei keiner anderen Gelegenheit hätte einer in die Hunderte von Millionen gehenden Fernseh-Zuschauergemeinde in aller Welt live dargestellt werden können, dass mit den Verantwortlichen eines Volkes, die friedliche Sportler bei Olympischen Spielen überfallen und kaltblütig ermorden, ein Friede nicht zustande kommen kann.» Die Rede ist natürlich von Palästina. Weiter schreibt er: «Von der Entstehungsgeschichte her spricht vieles dafür, den Schwarzen September als Kind der Geheimdienste anzusehen. (…) Es steht insgesamt zu vermuten, dass auch das Attentat auf die israelischen Sportler im Olympiazentrum in München geheimdienstgesteuert gewesen sein muss.»

In der Tat gibt es einige Ungereimtheiten. Im Stern vom 17.9.1972 heisst es: «Kein einziger Polizist stand vor dem Quartier der israelischen Olympiamannschaft, obwohl der Münchner Polizeipräsident Dr. Manfred Schreiber später zugab, dass auch nach seiner Ansicht die Israelis zu der Gruppe gehörten, die am meisten gefährdet waren. Schreibers Begründung für den fehlenden Schutz: 'Die israelische Seite hatte unser Angebot abgelehnt.' Pro Israeli hatte man einen deutschen Sicherheitsbeamten abstellen wollen. Doch die Israelis winkten ab: 'Lassen Sie, das machen wir selbst'.»


Thomas Falkner schreibt in seinem in der DDR erschienenen Terrorismus-Report: «Die Mehrheit der Offiziellen neigte dazu, den Forderungen (der Geiselnehmer) nachzukommen. Als jedoch gegen Mittag der israelische Sicherheitschef Zamir mit klarer Weisung aus Tel Aviv in München eintrifft, sich auf keine Zugeständnisse einzulassen, rückt eine Kompromisslösung immer mehr in die Ferne. Gewalt mit Gewalt beantworten, dahin geht der Trend. Ob er auch ein Blutbad mit weiteren Opfern aus der israelischen Mannschaft einkalkuliert habe, wird Zamir gefragt. ´Das nehmen wir in Kauf´, lautet die Antwort.»

«Die Israelis haben die Operationen im Hintergrund geleitet, die deutschen Behörden waren blosse Befehlsempfänger.»

Der Münchner Kriminalpsychologe Georg Sieber sagte aus, bereits im Vorfeld der Olympischen Spiele das Szenario eines PLO-Attentats simuliert zu haben, das etwa so ablief wie der tatsächliche Überfall. Doch seine Vorschläge zur Vorbeugung wurden nicht beachtet. Sieber macht vor allem den israelischen Staat für das Scheitern der Geiselbefreiung verantwortlich. «Sie haben die Operationen im Hintergrund geleitet, die deutschen Behörden waren blosse Befehlsempfänger.»

Vollständige Klarheit über die Hintergründe und die Interessens-Verflechtungen konnte bisher nicht geschaffen werden, denn die Akteneinsicht wurde ebenso lange behindert wie der Bau einer Gedenkstätte. Doch klar ist: Die Anschläge kamen den Kräften Israels zugute, die keinen Frieden wollten. Denn die Vergeltung unter dem Namen «Die Rache Gottes» markierte den Beginn einer neuen Kriegsführung. 

«Das Olympia-Attentat war ein entscheidender Moment in der Geschichte des Nahen Ostens», sagte auch Steven Spielberg, der mit seinem Film «München» von 2005 die Reaktion Israels in einen Spielfilm packte. Und Oliver Schröm, Terrorismus- und Geheimdienstexperte vom Stern schreibt: «Unter dem Codenamen 'Die Rache Gottes' jagte und ermordete der Mossad die Hintermänner des Attentates. Ermächtigt durch den Beschluss von Israels Premierministerin Golda Meir schlug der israelische Geheimdienst umgehend zurück. Zuerst ermordete ein Killerkommando des Mossad den Leiter des Schwarzen September, Mohammed Yussuf Najjar. Er lag gerade nackt in den Armen seiner Frau, die ebenfalls erschossen wurde. In der gleichen Nacht bombardierten israelische Hubschrauber noch das Hauptquartier der PFLP und zwei Waffenlager der Al Fatah am Rande von Beirut. Am nächsten Tag zog Golda Meir in der Knesset, dem israelischen Parlament, Bilanz: 'Es war wunderbar, wir haben die Mörder getötet, die schon neue Attentate planten.'» 

Danach ging es Zug um Zug. Der Mossad stöberte Mitglieder des Schwarzen September auch in Paris und Rom auf und liquidierte sie – ebenso wie weitere unschuldige Personen, die zufällig in der Nähe waren oder für Attentäter gehalten wurden. Damit wurde die staatsterroristische Praxis des so genannten 'gezielten Tötens', die heute von den USA angewandt wird, der Öffentlichkeit als adäquates Mittel eingepflanzt. Dazu kamen massive israelische Angriffe im Süd-Libanon und dem Befehl an 75 Bomber, um angebliche Guerillastellungen in Syrien und Libanon zu bombardieren. Es waren die schwersten Luftangriffe seit 1967, und sie forderten 66 Tote und unzählige Verwundete. 

Auch in Deutschland zog man willkommene Konsequenzen: Nach dem Fiasko der bayrischen Polizei wurde eine bundesweite Grenzschutzgruppe, die GSG 9 speziell für Terrorismusbekämpfung gegründet. Die Olympia-Anschläge waren auch der Beginn einer umfassenden Überprüfung, Verfolgung und Ausweisung von Arabern, speziell von Palästinensern. 

Bemerkenswert am Olympia-Attentat ist auch die Spur des Geldes: Immer wieder tauchen die Namen Francois Genoud und Paul Dickopf auf. Der berüchtigte Francois Genoud war ein Schweizer Bankier und Nazi, der sich bis zu seinem Tod 1996 zu Hitler bekannte. Während der Nazi-Zeit arbeitete er für den deutschen Geheimdienst. Später sorgte er mit seinem Vertrauten Paul Dickopf dafür, Nazivermögen zu legalisieren. Er pflegte nach dem Krieg jahrzehntelang Kontakte zu internationalen und speziell palästinensischen Terrorgruppen. In einer Biographie über Francois Genoud schreibt Karl Laske: «Ali Hassan Salameh wurde mit Gründung des 'Schwarzen Septembers' zu einem seiner Anführer und damit beauftragt, sämtliche Finanzoperationen in der Schweiz zu zentralisieren. Wir wissen heute, dass er mit Unterstützung seines Freundes Francois Genoud verschiedene laufende Konten bei der 'Banque commerciale arabe' in Genf eröffnet hat. Es handelte sich dabei um die Gelder des Schwarzen Septembers.»

«Ein Schurkenstück, dass die verbrecherische CIA ihren Mann Paul Dickopf an einflussreicher Stelle im Bundeskriminalamt platzieren und später auch innerhalb der Interpol-Organisation unterbringen konnte.»

Genouds Vertrauter Paul Dickopf war eine zentrale Grösse in den internationalen Geheimdiensten des letzten Jahrhunderts: In Nazideutschland war er bei der Abwehr, der Gestapo und der ss. Als sich der Zusammenbruch des 3. Reiches abzeichnete, flüchtete er in die Schweiz und kam ein Jahr lang bei Genoud unter. Der ehemalige BKA-Beamte Dieter Schenk sagte aus: «Der Nazi Dickopf, der ab 1943 in der Schweiz operierte, kehrte 1947 als Agent der US-Geheimdienste nach Deutschland zurück. Es hat was von einem Schurkenstück, dass die verbrecherische CIA ihren Mann Paul Dickopf an einflussreicher Stelle im Bundeskriminalamt platzieren und später auch innerhalb der Interpol-Organisation unterbringen konnte.»

Karl Laske weiter: «In der Amtszeit von Paul Dickopf hat Interpol rein gar nichts gegen den Terrorismus unternommen. Die Nicht-Intervention erreicht ihren Höhepunkt nach dem Münchener Attentat: das Verbrechen von München sei 'politisch', und Interpol solle sich da nicht einmischen.»

Dickopf starb 1973, also ein Jahr nach München, Genoud im Jahre 1996. Dass die Öffnung der Akten, die jetzt im Zuge der Entschädigung versprochen wurde, noch etwas an der Deutung der Ereignisse ändert, erwarte ich ehrlich gesagt nicht. 28 Millionen Entschädigung werden die Nachkommen der Ermordeten erhalten – seit fünf Jahren gibt es eine Erinnerungsstätte – und damit, so dürften die Verantwortlichen hoffen, hat die Sache ihre Ordnung und ihren Abschluss gefunden. Ich finde, damit sind Olympia-Anschläge ein bisschen wie ein kleiner Holocaust geworden – Teil einer fast gewohnheitsmässigen Schuldkultur der Deutschen. Wie gesagt: The Games Must Go On.

 

Quellen:

Andreas von Bülow: Im Namen des Staates, CIA, BND und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste. Piper, München, 1998

Gerhard Wisnewski: Verschlusssache Terror. Wer die Welt mit Angst regiert
Knaur, München 2007

Thomas Falkner: Terrorismus-Report. Rom, Stockholm, Beirut und andere Schauplätze. Urania-Verlag, Leipzig, Jena, Berlin (DDR), 1988

Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2001

Karl Laske: Ein Leben zwischen Hitler und Carlos - Francois Genoud. Limmat Verlag, Zürich, 1996

Oliver Schröm: Steven-Spielberg-Film "München" - Die Geschichte hinter der Geschichte. Stern.de, 26.1.2006: http://www.stern.de/politik/historie/554348.html?nv=cb

"Das machen wir selbst" - von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann