Geschichten vom Fliehen und Bleiben
Berichte von Menschen, die aus ihrer Heimat flohen –
oder sich trotz aller schrecklichen Umstände entschlossen haben, zu bleiben.
«Eine Eidechse wird auch in der Fremde kein Krokodil»
Filimon aus Äthiopien
oder sich trotz aller schrecklichen Umstände entschlossen haben, zu bleiben.
«Eine Eidechse wird auch in der Fremde kein Krokodil»
Filimon aus Äthiopien
Trotz Armut und Diktaturen in ihren Heimatländern entschliessen sich Menschen, in Afrika zu bleiben. Einer davon ist der Äthiopier Filimon Tesfasilassie.
Mein halbes Leben habe ich in einem afrikanischen Flüchtlingslager verbracht. Mein Leben hing komplett vom guten Willen anderer ab. Spenden haben mich grossgezogen. Das Rote Kreuz war mein Gott. Als Kind stand ich täglich Schlange für einen Teller Essen, unter einer erbarmungslosen Sonne. Sie malten denen ein Zeichen auf Stirn oder Ohren, die ihren Teller schon hatten. Ich lernte früh, für einen weiteren Teller Essen zu betrügen. Denn fünf Kilo Weizen, ein Liter Öl für eine vierköpfige Familie pro Woche - es reichte nie für mehr als drei Tage.
Die Welt wusste nicht, was sie mit uns machen sollte. Für ein paar Monate waren wir in den Schlagzeilen, dann wurden wir vergessen. Von allen Feierlichkeiten des Lebens blieben uns nur die Begräbnisse. Davon hatten wir viele, es waren kollektive Gelegenheiten, um unseren inneren Schmerz zu weinen. Tod war eine Erlösung, eine Flucht ins Unbekannte aus dem wohlbekannten Schmerz.
Vor dem Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea pflegte unsere Mutter zu sagen, wie reich wir doch seien. Wir hatten alles - sogar einen Vater. Wir verloren alles gleichzeitig: den Frieden, die Heimat, die Bürgerrechte, den Vater. Es machte Zack, und ich steckte 14 schreckliche Jahre lang im Lager fest, als Überbleibsel des Krieges. Flüchtling zu werden, bedeutet, deine Herkunft zu verlassen und in etwas Neues hineinzuspringen. Du kannst auf festem Grund landen oder du kannst abtreiben. Wir trieben ab.
Ich brauchte zehn Jahre, um meine Wunden zu heilen. Der Schmerz ist heute nur noch Erinnerung, kein Schmerz mehr. Meine Mutter trug die grösste Last. Da ich dies erstmals aufschreibe, sitze ich neben ihr.
Warum bleibe ich also in Äthiopien?
Vor einigen Wochen hatte ich die Chance, Europa zu besuchen. Ich wusste von der Masse von Flüchtlingen. Meine Freunde sind unter ihnen, sie haben Asyl beantragt. Ich kenne sie seit vielen Jahren, wir haben alles miteinander geteilt.Die meisten haben einen Master-Abschluss, sind Architekten oder Marketing-Manger. Warum tun sie das, wenn nicht wirklich ein besseres Leben auf sie wartet? Einen kleinen Moment lang dachte ich: Und warum nicht ich? Für einen Moment ergriff die Macht der Mehrheit, der Schmerz der Einsamkeit und die finanzielle Sorge von mir Besitz, und ich dachte: Vielleicht haben sie ja recht? Fast wäre ich ebenfalls auf diese Massenverdummung und Illusion hereingefallen.
Doch ich wachte wieder auf. Mir wurde klar, wo sie hingehen würden: in ein Flüchtlingslager! An den Ort, an den ich nie wieder hinwill. Denn ich war dort gewesen, es ist hässlich, und ich hasse es.
Ich denke an die schönen jungen Menschen, die sich von dieser falschen Information so haben betrügen lassen, die ihr wertvolles Leben riskieren auf der Suche nach etwas Besserem. Das Leben ist bei weitem wertvoller als jeder finanzielle Erfolg! Manche von euch mögen sagen, dass es grosse Unterschiede zwischen einem Flüchtlingslager in Europa und in Afrika gibt. Ja, das stimmt, aber die Essenz bleibt gleich: Es ist ein Verlust deines Selbst.
Die Welt ist ein freier Ort, wenn du einen freien Geist hast. In den letzten drei Jahren habe ich 12 Länder besucht, und das mit dem wenigen Geld, das ich verdiene. Ich habe meinen Geist befreit, die Welt ist ein globales Selbst geworden und ich ihr Bürger. Darum bleibe ich. Bitte ändert mich nicht! Ich bin derjenige, der mich verändert. Ein Sprichwort sagt: «Wer zu Hause eine Eidechse ist, wird in der Ferne kein Krokodil.»
Übersetzt von Leila Dregger
____________
Filimon möchte in Addis Abeba ein Kulturzentrum aufbauen, wo sich Menschen treffen und austauschen können, wie im Land Alternativen entstehen. Wer ihn dabei finanziell unterstützen will, kann das Geld überweisen auf das Konto der Grace-Stiftung: Konto-Nr.: 92188.56, Raiffeisenbank Zürich (PC account: 87-71996-7), IBAN: CH6181487000009218856, BIC: RAIFCH22, Stichwort «Filimon» in der Betreffzeile angeben. Das Geld wird ohne Abzug weitergeleitet.
Mehr zum Thema Flucht im Zeitpunkt 140 "Flucht"
Mein halbes Leben habe ich in einem afrikanischen Flüchtlingslager verbracht. Mein Leben hing komplett vom guten Willen anderer ab. Spenden haben mich grossgezogen. Das Rote Kreuz war mein Gott. Als Kind stand ich täglich Schlange für einen Teller Essen, unter einer erbarmungslosen Sonne. Sie malten denen ein Zeichen auf Stirn oder Ohren, die ihren Teller schon hatten. Ich lernte früh, für einen weiteren Teller Essen zu betrügen. Denn fünf Kilo Weizen, ein Liter Öl für eine vierköpfige Familie pro Woche - es reichte nie für mehr als drei Tage.
Die Welt wusste nicht, was sie mit uns machen sollte. Für ein paar Monate waren wir in den Schlagzeilen, dann wurden wir vergessen. Von allen Feierlichkeiten des Lebens blieben uns nur die Begräbnisse. Davon hatten wir viele, es waren kollektive Gelegenheiten, um unseren inneren Schmerz zu weinen. Tod war eine Erlösung, eine Flucht ins Unbekannte aus dem wohlbekannten Schmerz.
Vor dem Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea pflegte unsere Mutter zu sagen, wie reich wir doch seien. Wir hatten alles - sogar einen Vater. Wir verloren alles gleichzeitig: den Frieden, die Heimat, die Bürgerrechte, den Vater. Es machte Zack, und ich steckte 14 schreckliche Jahre lang im Lager fest, als Überbleibsel des Krieges. Flüchtling zu werden, bedeutet, deine Herkunft zu verlassen und in etwas Neues hineinzuspringen. Du kannst auf festem Grund landen oder du kannst abtreiben. Wir trieben ab.
Ich brauchte zehn Jahre, um meine Wunden zu heilen. Der Schmerz ist heute nur noch Erinnerung, kein Schmerz mehr. Meine Mutter trug die grösste Last. Da ich dies erstmals aufschreibe, sitze ich neben ihr.
Warum bleibe ich also in Äthiopien?
Vor einigen Wochen hatte ich die Chance, Europa zu besuchen. Ich wusste von der Masse von Flüchtlingen. Meine Freunde sind unter ihnen, sie haben Asyl beantragt. Ich kenne sie seit vielen Jahren, wir haben alles miteinander geteilt.Die meisten haben einen Master-Abschluss, sind Architekten oder Marketing-Manger. Warum tun sie das, wenn nicht wirklich ein besseres Leben auf sie wartet? Einen kleinen Moment lang dachte ich: Und warum nicht ich? Für einen Moment ergriff die Macht der Mehrheit, der Schmerz der Einsamkeit und die finanzielle Sorge von mir Besitz, und ich dachte: Vielleicht haben sie ja recht? Fast wäre ich ebenfalls auf diese Massenverdummung und Illusion hereingefallen.
Doch ich wachte wieder auf. Mir wurde klar, wo sie hingehen würden: in ein Flüchtlingslager! An den Ort, an den ich nie wieder hinwill. Denn ich war dort gewesen, es ist hässlich, und ich hasse es.
Ich denke an die schönen jungen Menschen, die sich von dieser falschen Information so haben betrügen lassen, die ihr wertvolles Leben riskieren auf der Suche nach etwas Besserem. Das Leben ist bei weitem wertvoller als jeder finanzielle Erfolg! Manche von euch mögen sagen, dass es grosse Unterschiede zwischen einem Flüchtlingslager in Europa und in Afrika gibt. Ja, das stimmt, aber die Essenz bleibt gleich: Es ist ein Verlust deines Selbst.
Die Welt ist ein freier Ort, wenn du einen freien Geist hast. In den letzten drei Jahren habe ich 12 Länder besucht, und das mit dem wenigen Geld, das ich verdiene. Ich habe meinen Geist befreit, die Welt ist ein globales Selbst geworden und ich ihr Bürger. Darum bleibe ich. Bitte ändert mich nicht! Ich bin derjenige, der mich verändert. Ein Sprichwort sagt: «Wer zu Hause eine Eidechse ist, wird in der Ferne kein Krokodil.»
Übersetzt von Leila Dregger
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Filimon möchte in Addis Abeba ein Kulturzentrum aufbauen, wo sich Menschen treffen und austauschen können, wie im Land Alternativen entstehen. Wer ihn dabei finanziell unterstützen will, kann das Geld überweisen auf das Konto der Grace-Stiftung: Konto-Nr.: 92188.56, Raiffeisenbank Zürich (PC account: 87-71996-7), IBAN: CH6181487000009218856, BIC: RAIFCH22, Stichwort «Filimon» in der Betreffzeile angeben. Das Geld wird ohne Abzug weitergeleitet.
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17. November 2015
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