Viel Wissen haben wir uns in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden angeeignet. Doch all dieses Wissen führt heute nicht dazu, es auf friedliche, nicht ausbeuterische Art miteinander zu probieren. Die Samstags-Kolumne.

«... das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar». Szene aus «Der kleine Prinz»

«Man sieht nur mit dem Herzen gut». Das Zitat aus dem Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry lesen wir gerne. Es ziert unsere Wände und Glückwunschkarten. Doch die Umsetzung steht auf einem anderen Blatt. Die meisten von uns dürften sich vor allem von ihrem Kopf leiten lassen. Hier werden die Entscheidungen getroffen und die Probleme gelöst. Homo sapiens ist stolz auf seine Intelligenz. So stolz, dass er nicht wahrnimmt, dass er an dem Ast sägt, auf dem er sitzt.

So weit hat es der verstehende, weise, verständige Mensch gebracht, dass er seinen Lebensraum weitestgehend zerstört hat und, nachdem er bereit dazu gewesen ist, sich und anderen für seine Gesundheit die grössten Einschränkungen aufzwängen zu lassen, einen Weltkrieg riskiert, der der letzte sein kann. Die Intelligenz, die uns dazu befähigt, logische, sprachliche, mathematische und sinnorientierte Probleme zu lösen, scheint uns nicht davor zu bewahren, die Welt in Schutt und Asche zu legen.

Dennoch suchen wir die Lösung der Probleme weiter dort, wo sie entstanden sind. Wir denken nach. Viel Wissen haben wir uns in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden angeeignet. Doch all dieses Wissen führt heute nicht dazu, es auf friedliche, nicht ausbeuterische Art miteinander zu probieren. Misstrauen, Eifersucht, Gier, Wut, Neid, Enttäuschung, Aggressivität, Trauer oder Angst haben uns so sehr im Griff, dass es nicht zu einem vernünftigen und kohärenten Denken und Handeln kommen kann.

Eingetrichtert

Alles haben wir in den vergangenen Jahrtausenden versucht zu kontrollieren und zu dominieren, nur das Naheliegendste nicht: unsere eigenen Gedanken. Wenn man uns nur oft genug wiederholt, etwas sei gut für unsere Gesundheit, unsere Sicherheit oder für die Demokratie, übernehmen die meisten von uns, das zeigt die Erfahrung, was ihnen gesagt wird.

Unsere Gedanken wiederum sind es, die unsere Gefühle bestimmen. Wer an ein negatives Ereignis denkt, bekommt schlechte Laune. Worte und Bilder haben einen grossen Einfluss darauf, was sich in uns abspielt. In Filmen fühlen wir mit, als ginge es um unser eigenes Leben, und beim blossen Gedanken daran, dass jemand in eine saftige Zitrone beisst, zieht sich uns der Gaumen zusammen. Unser Gehirn macht keinen Unterschied zwischen einer Idee und der Wirklichkeit.

Das, was wir etwa über Bildschirme in uns aufnehmen, kann dieselben Empfindungen auslösen, als seien wir gerade dabei, es tatsächlich zu erleben. So haben diejenigen, die darüber bestimmen, welche Informationen in unsere Köpfe gelangen, uns in gewisser Weise in der Hand. Während wir noch glauben, eigenständig zu denken und zu fühlen, werden wir, ohne uns darüber bewusst zu sein, an der Nase herumgeführt.

Ab durch die Mitte

Anders als der Kopf ist das Herz viel schwieriger zu beeinflussen. Niemand kann uns zum Beispiel dazu zwingen, jemanden zu mögen oder nicht zu mögen. Liebe kann sich nur in Freiheit entwickeln. Gefühle kommen nicht in uns hoch, nur weil man uns sagt, wir sollen jetzt traurig oder wütend sein. Anders als der Kopf kann das Herz nicht so leicht von Aussen manipuliert werden. Wer Zugang zu seinem Herzen hat, spürt schnell, wenn etwas nicht stimmt.

In unserer Zeit scheinen viele diesen Zugang verloren zu haben. Als das Zeitalter der Aufklärung, in der das rationale Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen überwunden hatte, mit der Erfindung der Guillotine endete, wurde uns buchstäblich der Kopf vom Rest des Körpers getrennt. Das Zusammenhängende verlor zunehmend an Bedeutung. Nur noch das Detail wurde gesehen. Mit der Spezialisierung kam uns der Bezug zum Gesamten abhanden. Wir verloren quasi den Boden unter den Füssen – und damit zu dem, was uns Leben gibt.

Unser Denken verselbstständigte sich so sehr, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der sich die Spitze vom Rest getrennt hat. Wenn wir wieder zusammenwachsen wollen und ganz werden, müssen wir in unsere Mitte zurückkommen, dorthin, wo unser Herz schlägt. Diesen Raum können wir jetzt, in diesem Moment, betreten. Wie sieht es darin aus? Ist es dort eng und hart oder weich und weit? Spüren wir in unseren Brustraum hinein, dorthin, wo sich alles entscheidet. Hören wir einen Moment nicht auf unseren Kopf, der fragt, was das denn soll.

«Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar». So heisst es weiter in dem Zitat von Saint-Exupéry. Lassen wir unseren Atem, das, was das Innen und das Aussen verbindet, das Irdische und das Himmlische, durch unser Herz hindurchfliessen. Spüren wir, wie sich der Brustraum bei jedem Atemzug weitet. Vielleicht fühlen wir, wie sich Blockaden lösen. Vielleicht fühlt sich etwas leichter an, heller, heiterer. Vielleicht kommen wir etwas mehr zur Ruhe. Vielleicht spüren wir Frieden.

Auch wenn wir um uns herum keinen Frieden sehen – in uns kann er sein. Möge er sich ausweiten, immer mehr. Mögen unsere Herzen, gerade weil es draussen stürmt, offener werden und immer heller. Warten wir nicht auf ein Licht von aussen. Lassen wir das Licht, das die Welt in diesen dunklen Zeiten so sehr braucht, aus uns herausstrahlen. Seien wir Sterne, Sonnen, die zunächst sich selbst, dann ihre Umgebung und schliesslich die ganze Welt erhellen.

Kommentare

Herz über Kopf

von Hanni
Liebe Kerstin, Ihre Artikel schätze ich sehr! Als Sie damals mein Lieblingslied "Geh aus mein Herz" sangen, war ich schlicht entzückt. Mit Ihren "unnötigen Dualismus" (M.Nehls/R.Hougaard) können Sie mich allerdings auf die Palme jagen. Kriege und all die andern grossen Probleme entstehen doch nicht durch Intelligenz, sondern durch Dummheit. Kriegsgurgeln denken nicht mit ihrem Kopf, aber mit dem Portemonnaie. Liebe, Friedfertigkeit, Empathie, alle positiven Gefühle UND Gedanken brauchen in jedem Fall beides: Herz UND Verstand in kluger Synthese. Mit freundlichen Grüssen! Hanni