Hitzacker-Dorf - multikulturell, solidarisch und gemeinschaftlich leben
Am Rande von Hitzacker – einem malerischen Städtchen an der Elbe – liegt Hitzacker Dorf. Es ist eine alternative Siedlung mit einem humanitären Grundimpuls: Die Idee der drei Gründer – alles ehemalige Gorleben-Aktivisten – war es, angesichts der Flüchtlingsströme ein nachhaltiges Dorf aufzubauen.
Hier sollten ein Drittel Geflüchtete, ein Drittel jüngere und ein Drittel ältere Leute zusammen leben. Viele Treffen, Baustunden, Problemlösungen und sieben Jahre später stapfen wir durch den Sand, der die Neubauten umgibt. Die Form des Dorfes entspricht dem regionaltypischen Rundling: Moderne Lehmhäuser stehen um einen Dorfplatz, der nur eine Zufahrt hat. Mit etwas Fantasie kann man das spätere Dorfleben schon erkennen: den Platz, das Gemeinschaftshaus, das kurz vor der Fertigstellung steht. Wir sind zum Mittagessen eingeladen, das in einer kleinen Küche für alle bereitet wird, die beim Bau mithelfen. Wir geniessen das klassische Gemeinschaftsessen mit Naturreis und Gemüse aus grossen Töpfen und treffen uns mit zwei Frauen, die uns Fragen beantworten.
Schon mal zusammengefasst: Rund 100 Menschen wohnen inzwischen hier, darunter viele Familien mit Kindern und etwa 15 Geflüchtete. Bisher war es das gemeinsame Bauen, das Gemeinschaftsgeist erzeugt hat. Jetzt, wo das weitgehend abgeschlossen ist, will man sich mehr mit Kultur, Gärten, Verschönerung beschäftigen. Soweit ist klar, Hitzacker-Dorf ist nicht als enge Lebensgemeinschaft oder Grossfamilie gedacht, in der man alles teilt. Sondern als Dorf mit intakter Nachbarschaft.
Wir mögen die Stimmung und die Menschen. Wir ahnen, dass jeder Schritt hier in gemeinsamen Prozessen und langen Diskussionen errungen wird. Auch in Auseinandersetzung mit den Gründern.
Beim Mittagessen der Baustelle des Gemeinschaftshauses antworten uns Rita Lassen und Silvia Klein Fragen zur Entwicklung von Hitzacker Dorf. Da die beiden im Wechsel geantwortet haben, habe ich ihre Antworten zusammengefasst – nur am Ende getrennt, wo sie persönlich zu ihrem Leben geantwortet haben.
Rita Lassen (C)
Wie ist Hitzacker Dorf entstanden?
Wie jede Gemeinschaft haben wir eine Legende: 2015, als all die Geflüchteten nach Deutschland kamen, sassen drei Freunde bei Rotwein und Käse zusammen und überlegten, wie sie helfen können. Und so entstand die Vision von einem Dorf, wo Geflüchtete und Deutsche zusammenleben. Auf Augenhöhe miteinander. Die drei Männer waren gut vernetzt im Wendland. Sie riefen, und viele kamen. In die Vision nahmen sie viele Aspekte mit hinein: ein nachhaltiges Dorf, ein Zukunftsdorf, gewaltfrei, ökologisch, interkulturell, sozial. Einiges davon wurde umgesetzt, anderes wartet noch darauf.
Einer der drei war Baubiologe, und dieser Aspekt wurde dann auch besonders konsequent umgesetzt, mit hohem Standard. Wenn unsere Häuser einmal wieder abgebaut werden, wird man alles wieder verwenden können. Es war unser Ziel, für 1250 Euro / qm bauen zu können. Wir haben es fast geschafft: 1400 Euro qm. Das ist sehr günstig für Ökobau. Und das geht nur, weil wir so viel selber machen.
Wir sind mit dem Konzept der 25 Häuser zur GLS-Bank gegangen. Die sagten: gemach gemach. Macht kleinereEinheiten daraus und baut zuerst die erste. Damit klar ist, dass die Zinsen und die Tilgung von den Bewohnern und Bewohnerinnen getragen wird. Im Nachhinein gesehen war das richtig. Wenn wir das ganze Geld erhalten hätten, um alles zu bauen, das wäre überhaupt nicht gegangen.
Auf der anderen Seite bin ich total froh, dass jetzt tatsächlich diese ersten 12 Häuser hier stehen. Wir sind jetzt die Gemeinschaft.
Ich kenne kein anderes Projekt, was so viel Eigenleistung erbracht hat.
Die Gründer hatten die Vision, dass die Menschen zwei Jahre ihres Lebens in den Aufbau investieren. So wie sonst Häusle bauen. Dann wären wir nach zwei Jahren fertig geworden. Die Realität sah etwas anders aus. Die Menschen waren ja nicht alles solche Handwerker. Trotzdem: Ich kenne kein anderes Projekt, was so viel Eigenleistung erbracht hat. Wir haben entschieden, dass jeder die Eigenleistung macht, die er kann. Egal in welchem Aspekt. Es geht nicht um Stundenanzahl. Dazu gehört alles mögliche: Garten anlegen, Fahrradunterstand bauen, Vernetzung in Hitzacker, Car-Sharing, gemeinsamer Weihnachtsmarkt. Das ist Wahnsinn, aber es ist das, was uns bewegt und Spass macht. Fast alle Jobs und die Mitwirkung an Gremien sind ehrenamtlich, auch die Geschäftsführung. Nur die Buchhalterin wird bezahlt.
Silvia Klein (C)
Die Aufnahme von Geflüchteten war schwieriger. Am Anfang kamen sechs oder sieben Familien. Dann verzögerte sich durch eine Klage einer Firma in der Nachbarschaft der Bau um ein Jahr. In der Zeit mussten sich die Familien etwas anderes suchen. Als es bei uns weiterging, wollten sie die Kinder nicht wieder aus der Schule nehmen. Wir haben dann die Aufnahme von Geflüchteten Stück für Stück aufgebaut. Es kamen zwei syrische Familien aus Dannenberg, dann noch eine palästinensische Familie und ein junger Mann aus Afghanistan.
Es ist tatsächlich ein gegenseitiges Lernen, was die Menschen überhaupt brauchen. Eine Familie sagte, man muss erstmal verstehen, was ihr wollt. Ein anderer sagte, ihr seid ja eigentlich ein Politik-Dorf. (lacht) Da zieht man nicht einfach ein, sondern man arbeitet mit. Wir nennen uns ja auch Mitmach-Dorf.
Wie hat sich die Gemeinschaft entwickelt?
In der Anfangszeit waren die meisten von uns Grauhaarige. Die wenigen jungen Leute fühlten sich wie Alibi-Junge. Inzwischen haben wir sehr viele Familien mit Kindern und auch ein paar alleinstehende junge Leute, eine gute Mischung. Aber wir haben viel mehr Frauen als Männer, vor allem ältere alleinstehende Frauen. Ältere Ehepaare sind eine grosse Stabilität in der Gemeinschaft, wenn sich beide einbringen. Die Gemeinschaftsarbeit wird oft von den Älteren übernommen. Denn Familien und Eltern sind überlastet mit Jobs und Kindern.
Alle sollen hier einziehen können, die mit der Vision übereinstimmen. Es soll nicht an den Finanzen scheitern. Das ist uns wichtig. Wenn jemand die Miete nicht bezahlen kann, dann kommen wir anderen gemeinsam dafür auf. Wie in einer Auktion schaut dann jeder, wie viel mehr er oder sie bezahlen kann. Die Wohnungsanteile finanzieren das Dorf ja zu einem grossen Teil mit. Wer kann, finanziert freiwillig Solidaranteile. Die sind für die Geflüchteten, aber auch für einige Deutsche.
Anfangs haben wir alle aufgenommen. Erst später fingen wir an, das zu regulieren. Nicht nur wegen der Finanzen. Wir schauen jetzt mehr, passt diese Person zu uns.
Wenn ihr also bei uns einziehen wolltet, dann macht ihr einen Visionsworkshop mit. Dann kommt ihr zu einem Bau-Samstag und helft einfach mit. Ihr nehmt an Gremien und am Plenum teil. Und irgendwann stellt ihr einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Genossenschaft. Zuletzt macht ihr einen Finanzworkshop mit. An dem offenen Gespräch zur Mitgliedschaft nehmen eure Paten teil.
Wie trefft ihr Entscheidungen?
Wir wollen alles gemeinsam entscheiden. Anfangs gab es nur das Plenum, jeden Dienstag. Inzwischen haben wir eine Struktur: eine Generalversammlung der Genossenschaft, ein monatliches Plenum, einen Vorstand, diverse Beiräte und AGs für Finanzen, Wohnung, Bauen, Mobilität, Gemeinschaftsleben etc. Vorstand, Beiräte und AGs bereiten Entscheidungen vor und bringen sie ins Plenum. Dort wird entschieden. Manchmal muss das noch mal überarbeitet und noch einmal vorgelegt werden. Und dann führen die Beiräte und die Arbeitsgruppen den Beschluss aus. Alltagssachen entscheiden wir natürlich dort, wo sie anfallen.
Basisdemokratie ist herausfordernd. Wir haben in einigen Fachbereichen, zum Beispiel im Bau ein hohes Niveau, da verstehen nicht mehr alle, worüber sie entscheiden. Du kannst dich auch nicht in jedes Thema einarbeiten, wenn du in einem Plenum zehn Themen hast. Deshalb kann ich mir vorstellen, dass wir einige Entscheidungen in Zukunft delegieren und nicht mehr jeder bei allem mitdenken muss.
Was verbindet euch?
Immer noch die Vision von einem interkulturellen, gemeinschaftlichen und solidarischen Leben auf dem Land. Mit dem gemeinsamen Bauen hat es angefangen, es ist unglaublich, wie gemeinschaftsstiftend das ist. Wenn das Gemeinschaftshaus fertig ist, werden wir hoffentlich viel zusammen tanzen. Oder malen. Ausserdem sitzen überall Leute zusammen und reden. Das ist wichtig. Wir haben eine solidarische Nachbarschaft: Ältere passen auf Kinder auf, damit die Eltern arbeiten können. Wer krank ist, bekommt eine Suppe vor die Tür gestellt. Wir haben auch Arbeitskreise, die vieles im Dorf gestalten.
Was würdet ihr aus heutiger Sicht anders machen?
Silvia: Ich würde mir manchmal wünschen, dass wir nicht jedes Rad neu erfinden müssen. Ich selbst habe schon vorher in Gemeinschaft gelebt. Doch es war schwierig, meine Erfahrungen einzubringen. Die Menschen wollten ihre eigene Erfahrung machen. So ein Prozess kann wohl nicht beschleunigt werden.
Rita: Ich habe nicht gedacht, dass es so komplex ist, zusammen zu leben. Es ist wie eine Beziehung. Man wird angetriggert von andern. Das habe ich unterschätzt. Insgesamt denke ich, dass wir auf einem guten Weg sind. Was ich toll an uns finde, ist dass wir lernen und dass wir unsere Fehler rechtzeitig entdecken. Als die ersten Geflüchteten wieder gingen, waren wir am Boden zerstört. Aber wir haben gelernt, wie es nicht geht und dass wir es anders machen müssen.
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