«Ich weiss nicht, ob ich in meinem Leben schon mal eine ganze Stunde lang tun und lassen durfte, was ich wollte.» Diesen Satz habe ich vor kurzem aus dem Mund einer Zwanzigjährigen vernommen, nachdem ich Schülerinnen und Schüler einer Berufsfachschule für Bühnentanz eine Improvisation vorgeschlagen hatte. Je öfter ich solche Aussagen höre, desto ungeduldiger denke ich: Das ist die Art von Bildung, die wir Menschen brauchen, um den Herausforderungen dieser Zeit zu begegnen. Den Umgang mit Freiheit üben. Improvisieren lernen.
Aber was genau ist Improvisation? Totale Freiheit? Beliebigkeit? Das Improvisierte hat keinen besonders guten Ruf, es ist verwandt mit zusammengestöpselt, unfertig, nicht gekonnt, vorläufig. Was, wenn ich das nicht als Makel betrachte? Es ist eine Illusion, es könne für alles fertige Lösungen geben. Wie erfrischend, wenn wir eine Sache angehen, ohne sie können zu müssen. Das ist es, was ich persönlich gelernt habe beim Improvisieren: Immer, wenn ich denke «Jetzt kann ich es, jetzt weiss ich, wie es geht», dann entwischt es mir.

Wenn ich improvisiere, erlebe ich den leeren, offenen Raum um mich herum als herausfordernde und zugleich wunderbar befriedigende Verantwortung: Ich kann mich nicht verstecken hinter einer vorgegebenen Struktur. Niemand sagt mir, mit welchem Fuss ich in welcher Geschwindigkeit einen Schritt in welche Richtung machen soll. Improvisieren ist ein Zustand totaler Selbstermächtigung. Ich bin darauf angewiesen, mich selbst zu orientieren. Ich spüre vielleicht den Impuls, mich auf eine bestimmte Weise zu bewegen, und stelle fest, dass (mir) das (momentan) nicht möglich ist. Das kann mich anspornen, meine technischen Fähigkeiten zu verfeinern. Und auf diese Weise finde ich möglicherweise eine völlig neue Bewegung, die mir niemand hätte beibringen können – weil ich sie aus meiner eigenen Neugier entwickelt habe. Ich trage die volle Verantwortung dafür. Ich kann mich nicht darauf berufen, dass ich ja nur ausgeführt habe, was von mir erwartet wurde.

Das ist für mich Freiheit, die das Gegenteil von Beliebigkeit darstellt. Und es ist das Modell dessen, wie ich Politik gelebt sehen möchte: Erleben, dass ich mit meinen wie auch immer gearteten Entscheidungen die Welt mitgestalte. Darauf können wir unser Augenmerk richten, wenn jetzt allerorten der Ruf nach einem Neuerfinden der Demokratie laut wird. Kein Wunder, dass unsere Demokratie nicht funktioniert. Denn die unerlässliche Grundzutat für eine Demokratie sind Bürgerinnen und Bürger, die sich zutrauen, Entscheidungen zu fällen, die auf ihrer eigenen Wahrnehmung einer Situation beruhen. Allen, die das üben wollen, empfehle ich das Wagnis der tänzerischen, bildnerischen, musikalischen, szenischen Improvisation. Es wird sich als Haltung vom künstlerischen Raum allmählich auf das «echte Leben» ausweiten. Je mehr wir das zulassen, desto weniger müssen wir ersteren von letzterem trennen. Und je mehr wir das Improvisieren als gesellschaftliche Kunst und Zukunftsfertigkeit kultivieren, desto weniger Gesetze und Verordnungen werden wir brauchen – weil wir uns die Freiheit zurückerobert haben, dem Leben so zu begegnen wie es ist: improvisus – unvorhergesehen.

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