Israel läuft Gefahr, ein neuer Ort der Massenaufstände zu werden

Über die landesweiten Proteste in den USA wird Israel wohl sehr besorgt sein. Afroamerikaner protestieren seit Ende Mai gegen die Ermordung eines Schwarzen durch einen weißen Polizisten. Könnte es bald Proteste in Palästina geben?

Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu hat angekündigt, am  1. Juli mit der Annexion großer Teile Paläsitinas zu beginnen. Er wird befürchten müssen, dass im bislang überwiegend ruhigen Westjordanland und in Ostjerusalem als Reaktion darauf Gewalt ausbrechen könnte – ähnlich wie in den USA. Nach mehr als einem Jahrhundert palästinensischer Ressentiments und einem Jahrhundert des Widerstands gegen Enteignung und Unterdrückung ist Israel zweifelsohne ein Ort für einen neuen Massenaufstand, eine dritte Intifada.

Der rechtspopulistische Netanjahu muss zudem befürchten, dass sein Freund und Verbündeter US-Präsident Donald Trump, der die Annexion unterstützt, die US-Präsidentschaftswahlen im November verlieren könnte. Und so wunderts nicht, dass Netanyahu die Angelegenheit in Palästina erledigen möchte, bevor in den USA die Wähler an die Urnen gehen. Schließlich sieht sich Trump zur Zeit mit jener Art von Protesten und Gewalt konfrontiert, der sich Netanyahu wohl in einem Monat auch stellen werden muss. Trumps Umfragewerte sind außerdem wegen seines falschen Umgangs mit der Covid-19-Krise gefallen, die mehr als 110´000 Bürger in den Staaten getötet hat.

Die Situationen in den USA und in Palästina sind analog. Beide Länder wurden auf Kosten anderer aus dem Boden gestampft. Beide Länder ernten nach wie vor die Ressentiments der Bevölkerungsgruppen, denen Menschenwürde genommen wurde.

Die USA praktizierten Sklaverei, führten ethnische Säuberung indigener Stämme durch und übten Rassismus gegenüber Nicht-Weißen aus. Für die weiße Mehrheit waren und sind die Existenz, die Interessen und die Rechte der Nicht-Weißen kaum oder gar nicht von Bedeutung. Aus diesem Grund hat die jahrhundertealte Wut schwarze Bürger immer wieder auf die Straße getrieben, um gegen Diskriminierung, Verfolgung und Lynchjustiz zu protestieren.

"Es gibt kein palästinensisches Volk. Es gibt palästinensische Flüchtlinge", Golda Meir.

Palästinenser werden von den Israelis auf die gleiche Weise behandelt. Bereits 1895 bezeichnete Theodor Herzl, der Gründervater des "jüdischen Staates", die einheimischen Palästinenser als "die Bevölkerung ohne einen Pfennig", die enteignet und über die Grenze getrieben werden könne. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Palästinenser, denen Menschen- und Bürgerrechte verweigert wurden, konnten vertrieben werden. Nach der israelischen Besetzung Ost-Jerusalems, des Westjordanlands und des Gazastreifens im Jahr 1967 setzte die israelische Premierministerin Golda Meir die gewohnte Verleugnung fort, indem sie erklärte: "Es gibt kein palästinensisches Volk. Es gibt palästinensische Flüchtlinge". Sie erklärte natürlich nicht, warum Palästinenser Flüchtlinge waren und sind.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Palästinenser im besetzten Ostjerusalem am vergangenen Wochenende auf die Straße gingen, nachdem israelische Soldaten den 32-jährigen Iyad Halak erschossen hatten. Der unbewaffnete autistische Palästinenser war auf dem Weg zu einer Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, an welcher er jeden Tag studiert und gearbeitet hatte.

Die Soldaten behaupteten, er habe einen "verdächtigen Gegenstand getragen, der wie eine Pistole aussah". Als sie ihn anschrieen, floh er, sie jagten ihn, drängten ihn in die Ecke und schossen angeblich auf seine Beine. Obwohl Israel behauptet, der ranghöchste Offizier habe das Feuer eingestellt, feuerte ein Mann sechs oder sieben Schüsse auf Halak ab und tötete ihn.

Etwa 150 Palästinenser aus Ostjerusalem gingen darauf auf die Straße, um gegen seinen Tod zu protestieren. Auf einem Plakat hieß es: "Palästinenser Leben zählen", ein Slogan, der an die amerikanische Parole "Black lives matter" erinnert. Die israelische Polizei löste die Demonstration gewaltsam auf.

In den schwarzen und palästinensischen Gemeinden in den USA bauen sich Spannungen und Ressentiments auf, die bis zum Überkochen führen.

In den sozialen Medien verglichen die Palästinenser diesen Fall zu Recht mit dem Mord an George Floyd im entfernten US-Bundesstaat Minnesota. Palästinensische Männer und Jungen wie ihre schwarzen Gegenstücke in den USA fürchten um ihr Leben, wenn sie ihre Häuser verlassen. Und in beiden Ländern kommen "Vertreter von Recht und Ordnung" regelmäßig mit Mord ungestraft davon. Versprochene Ermittlungen laufen ins Leere.

In den letzten Jahren hat Israel die Schritte für die Annexion vorbereitet. So hat es das Land der palästinensischen Bauern im Jordantal an sich gerissen und die Bauern gezwungen, nach Jericho, der größten Stadt in der Gegend, oder in mehrere andere kleine Enklaven zu ziehen. Derweil ernten israelische Kolonisten Dattelpalmen und andere Feldfrüchte im Tal. Israel hat dasselbe mit den Palästinensern im Westjordanland, insbesondere in der Gegend von Bethlehem, getan.

Mit Netanjahus geplanten Annektierung des Jordantals und der israelischen Kolonien im Westjordanland würde der Premierminister jede Idee eines palästinensischen Staates beenden, da es kein Land mehr für diesen Staat geben würde. Die 60´000 palästinensischen Einwohner wären keine Bürger eines Staates mehr. Kurzum: Sie wären staatenlos, ohne Rechte, ohne Schutz vor Israel und ohne Pässe, die ihnen erlauben würden, frei zu reisen.

Tatsache ist, Palästinenser sind viel schlechter dran als die Afroamerikaner, die Bürger mit Rechten und Pässen sind. Wenn sie ihre Wut auf die Ermordung von George Floyd bündeln, um einen Wandel in den immer noch kolonialen USA herbeizuführen, werden sie vielleicht sogar als Bürger mit Rechten behandelt.