Kein Joggen, kein Velo, nada – nichts
Es ist still geworden in Málaga. Seit vor sechs Wochen die Ausgangssperre verhängt wurde, kommt nur noch abends Stimmung auf, wenn die Bewohner minutenlang aus ihren Fenstern klatschen.
Und plötzlich war sie da: die Ausgangssperre. Am Samstag vor sechs Wochen kam sie zeitgleich mit dem Estado de alarma – mit dem Notstand.
Kulturzentren, Restaurants, Läden, Schulen, alles wurde dicht gemacht, um das Coronavirus auf seinem Weg durch Spanien zu verlangsamen. Wer die Storen nicht selber runterzog, dem half die Polizei nach. Geöffnet sein dürfen seither unter anderem nur noch Lebensmittelgeschäfte und Tabakläden. Weiter teilte der spanische Regierungschef Pedro Sánchez in seiner TV-Ansprache mit, dass ab sofort alle zu Hause bleiben müssten.
Seitdem sitzen wir – mein sechsjähriger Sohn Amaru und ich – auf dem Balkon oder in der Wohnstube. Tagein, tagaus.
So richtig war niemand darauf vorbereitet, als Sánchez Mitte März die Einzelheiten der vorerst 15-tägigen Ausgangssperre mitteilte. Er selber sagte denn auch: «Sie sind drastisch, die Massnahmen. Drastischer als in Italien.» Die meisten von den rund 47 Millionen Bewohner Spaniens glaubten im Vorfeld nämlich, dass der Notstand in etwa so sein würde wie in der Schweiz. Dass man trotz allem noch raus darf, an die frische Luft, hie und da. Klar: unter Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen.
Falsch gedacht! Seit bald sechs Wochen ist alles vorbei. Die Strände sind abgesperrt, auch die Parkanlagen, die Spielplätze. Alles wurde mit einem rotweissen Absperrband versehen. Man darf nicht spazieren, nicht Velo fahren, nicht joggen gehen. Raus darf nur noch, wer etwas Lebensnotwendiges einkaufen oder zwingend arbeiten gehen muss. Arbeiten gehen etwa Krankenschwestern, Pfleger, Ärztinnen und Kassierer in Supermärkten. Glück haben die Hundebesitzer: Ihnen ist es erlaubt, ihr Haustier auszuführen. Jedoch nur alleine. Nur kurz. Und nicht weit weg von zu Hause. Diese drei Regeln gelten im Übrigen für alle. Auch für diejenigen, die einkaufen gehen.
Spanien ist nebst Italien das Land in Europa, das am stärksten von der Krise betroffen ist. Weltweit liegt es mit der Zahl der Infizierten auf Platz zwei – hinter den USA. Diesen Sonntag waren es offiziellen Zahlen zufolge über 208´000 vom Coronavirus Angesteckte und rund 23´000 Verstorbene. Die am stärksten betroffenen Regionen sind Madrid und Barcelona, wo insgesamt die Hälfte der Fälle verzeichnet wurden.
Zu Beginn der Ausgangssperre verstanden viele nicht genau, was sie bedeutet. Ebenso ihren Ernst begriffen nicht alle. In sozialen Medien kursierten humoristische Videos, die allerdings in dieser Lage tatsächlich für ein wenig Auflockerung sorgten. So wackelte in Madrid ein Mann in einem riesigen Dinosaurierkostüm durch die Strassen. Ein anderer joggte verkleidet als Frosch. Für Tiere gilt die Ausgangssperre nicht. Was diese sehr ausserordentliche Zeit offensichtlich mit sich bringt, sind neue kreative Kräfte.
Aber im Netz werden auch andere Videos geteilt. In den Strassen von Spanien sind seit Beginn der Quarantäne Polizisten und Militärs zu sehen. Sie patrouillieren oder stehen mit ihren Fahrzeugen Wache auf Plätzen. Sie kontrollieren, ob die Menschen einen triftigen Grund haben unterwegs zu sein. Wenn nicht: Gibt es einen Verweis – im besten Fall. Es kann aber auch zu Bussen ab 100 Euro oder zu einer Strafe von bis zu einem Jahr Gefängnis kommen.
Die Sicherheitsleute sind streng, oft schroff. Es kommt teils zu richtigen Auseinandersetzungen. Polizisten etwa, die rauchende Jugendliche jagen und auf den Boden drücken, Verfolgungen, wie man sie aus US-Nachrichtensendungen kennt. In einem Video schreit ein Polizist einen Mann auf dem Trottoir lauthals an, was er hier mache: «Sie gefährden Menschenleben!» Oder andere Freiläufer werden bis vor die Haustür zurückbegleitet. Die Zahl der Bussen und Verhaftungen steigt täglich. An einem Vormittag wurden in Madrid sechs Menschen während einer Orgie nackt festgenommen – die Spanier waren empört.
Mein Sohn und ich, wir leben ganz im Süden Spaniens. In Málaga. Eine Küstenstadt mit schönen Stränden. Hier unten ist es eigentlich schon Sommer. Zumindest war es so, bevor der Notstand kam. Seither hat jedoch komischerweise das Klima gewechselt. Die Temperaturen sind gesunken, der Himmel ist grau und bewölkt, es regnet zeitweise täglich. Amaru zeichnet farbige Corona-Bilder und improvisiert Corona-Lieder. Kürzlich fragte er mich, ob der Virus auch in Bern lebe und Berndeutsch spreche.
Am Morgen, wenn man erwacht, ist es sehr still. Ungewöhnlich still – da niemand mehr auf der Strasse ist. Auch wir schlafen nun länger als üblich. Und dann? Was macht man so?
Nun, physisch gesehen ist es einfach erklärt: Wir sitzen zu Hause rum.
Wenn sich die Sonne doch noch kurz zeigt, gehen wir auf den Balkon und strecken die Gesichter gegen den Himmel. Mein Sohn hüpft oft auf dem Sofa herum, tanzt oder rennt über längere Zeitphasen in der Wohnung hin und her, und nochmals: hin und her. Leute rufen an, aus der ganzen Welt, berichten, haben jetzt Zeit. Der Tag ist trotz Einschränkungen irgendwie voll, jedoch nicht mehr überladen. Okay, ich gebe es zu, vielleicht wird er allmählich ein wenig gleichmässig.
So geht es vielen Menschen in Málaga. Sie erleben die Tage zusehends deckungsgleich. War jetzt Donnerstag oder Freitag? Nichtsdestotrotz sieht so mancher die Ausgangssperre als eine Chance mal herunterzufahren.
Die Schauspielerin Carmen Román lebt im Stadtzentrum. Ihr würden diese Entschleunigung und das derzeit asketische Leben gut tun, sagt die 48-jährige Spanierin. «Ich habe endlich Zeit, Dinge zu tun, die schon lange anstanden.» Auch noch nach Wochen Quarantäne miste sie in ihrer Wohnung aus und ordne. «Was ich alles finde! Alte Fotos und Liebesbriefe.» Ausserdem rede sie viel mit Freunden am Telefon oder mit Nachbarn von Fenster zu Fenster.
Carmen ist alleine in Quarantäne, wie ist das? «Ich denke viel über mich nach und rede manchmal mit einer meiner Puppen», sagt sie und lacht. Abends mache sie Übungen, etwa Strecken und Dehnen.
Essen und Bewegung – ein omnipräsentes Thema von allen. «Ich bin heute sogar zu Fuss einkaufen gegangen und habe dann die vier Säcke nach Hause geschleppt», sagt José Luis Cuevas Martín. Normalerweise nimmt der 48-Jährige das Auto. Aber seit der Totalquarantäne fehlt es ihm an Bewegung.
«Hombre, drei Kilos habe ich bereits zugenommen.»
Cuevas Martín ist Besitzer von Restaurants und einer Diskothek in Málaga. Was macht er seit deren Schliessung? «Nada, lange Siestas», sagt er lachend. Nun gut, er versuche seine Tagesstrukturen beizubehalten, weswegen er nach wie vor früh aufstehe.
Dann höre er Nachrichten, bügle seine Kleider, widme sich der Zubereitung der Mahlzeiten und nehme jeden Tag ein Filmchen für seine Freunde auf.
Sechs Wochen, totaler Lockdown. Bereits drei Mal wurde der Notstand mit Ausgangssperre verlängert – jeweils um 15 weitere Tage. Wie lange noch? Wie lange noch ein «Leben in der Kapsel»? Die Zahlen der Todesfälle nehmen mittlerweile täglich ab. Es scheint ein Ende in Sicht zu sein. Seit heute dürfen Kinder unter 14 Jahren für eine Stunde spazieren gehen, in Begleitung eines Elternteils. Dabei dürfen sie sich maximal einen Kilometer vom Zuhause entfernen. Weitere Lockerungen sollen folgen, hat Regierungschef Sánchez gesagt.
Reale soziale Kontakte, ohne einen Bildschirm dazwischen, gibt es nur noch zwei: beim Einkaufen und beim Klatschen. Das sind die Momente, in denen man richtige Menschen sieht und realisiert: Die gibt es! Um 20 Uhr gehen die Bewohner Spaniens auf die Balkone und Terrassen oder öffnen ihre Fenster und fangen an zu klatschen, johlen und pfeifen. Jeden Abend. Seit sechs Wochen. Damit danken sie den Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten für ihren Einsatz.
Ja, wir sind in der Tat von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen worden. Innerhalb unserer vier Wände gibt es zwar nach wie vor genügend zu tun. Aber...doch...der Koller guckt allmählich um die Ecke und winkt uns hämisch zu. Wie gut, dass Amaru heute spazieren gehen darf. Der Strand liegt 900 Meter entfernt, da dürfen wir hin. Was für eine Freude! Am 9. Mai könnte der Notstand vollständig aufgehoben werden. Die Frage bleibt: Wie wird die Welt nach dieser Zeit sein?
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