Keine Angst im Kapitalismus! Zum 80. Geburtstag von Dieter Duhm
Ist er nun Marxist, esoterischer Prediger oder Sex-Guru? Aktivist oder Therapeut? Pazifist oder Krieger? Künstler oder Wissenschaftler? Dieter Duhm, früherer Bestsellerautor der deutschen Studentenbewegung und Gründer der Friedensgemeinschaft Tamera in Portugal, ist vor allem ein Mensch, der nicht an Schubladen glaubt. Wie viele Menschen verdankt die Autorin ihm eine lebenslange Inspiration.
1973 erschien das Buch eines jungen, kaum bekannten Autors, das unter linken Aktivisten reissenden Absatz fand: «Angst im Kapitalismus.» Kein grosser Verlag wollte es veröffentlichen. Buchhandlungen boten es nur unter dem Ladentisch an. Aber für die verbliebenen Aktivisten der Studentenbewegung kam es zur richtigen Zeit. Endlich gab es eine Antwort, warum die Bewegung so erbärmlich gescheitert war – und wie es jetzt weitergehen könnte.
Dieter Duhm schrieb: «Wir haben in der Studentenrevolution viele Ziele erreicht. Aber dann begann der Kampf im Inneren der Gruppen, um die richtige Ideologie, um Anerkennung, Macht und Sex! Darauf war niemand vorbereitet. Niemand wusste, wie sehr die äussere Gewalt des Systems und der innere Kampf der Menschen aus derselben Quelle kamen.»
Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution.
Angst als systemerhaltende Strategie des Kapitalismus: Mit dieser Erkenntnis war Duhm seiner Zeit weit voraus.
«Warum konnte bisher noch keine menschliche Idealgesellschaft verwirklicht werden? Weil der Fehler nicht nur in äusseren Verhältnissen, sondern vor allem in den inneren Strukturen und Denkformen bestand. Man kann aus autoritär geformten Menschen keine freie Gesellschaft aufbauen. Man kann keine gewaltfreie Gesellschaft errichten, wenn die Hass- und Gewaltimpulse im Inneren nur unterdrückt, aber nicht aufgelöst sind. Eine Revolution, die nicht im Inneren stattgefunden hat, kann auch im Äusseren nicht gelingen. Das ist eine Lehre der Geschichte. Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution.»
Doch die linke Bewegung nahm diesen Gedanken nicht auf. Politische Aktion und persönliche Arbeit an sich sollte verbunden werden: Damit entfernte sich Duhm sowohl von der Linken als auch von der therapeutischen Szene. Ja, man warnte vor ihm, er erhielt Auftritts- und Redeverbote.
Wie konnte sich ein so aufstrebender Autor so konsequent zwischen alle Stühle setzen? Vielleicht durch seine lebenslange Beschäftigung mit Gewalt. Ihm brannte die Frage unter den Nägeln, warum wir als menschliche Gattung zu so viel Grausamkeit fähig sind. Wie konnten sich brave Familienväter über Nacht in KZ-Henker verwandeln? Können wir die globale Gewalt beenden? Ideologische oder vorgefertigte Antworten reichten ihm nicht. Er hatte als Kind die Bomben in Berlin fallen sehen und die Grausamkeiten gegen Flüchtlinge erlebt. Als Jugendlicher provozierte er Kirchgänger mit der Forderung von Nächstenliebe und Frieden für Vietnam. Als Student blockierte er den Transport der Bildzeitung. Vor Gericht überzeugte er den Richter davon, dass es «höheres Rechtsgut» ist, gegen den Krieg einzutreten, als brav zu Hause zu bleiben.
«Pazifismus ist der radikale und intelligente Selbsteinsatz des Menschen für die Befreiung aller in ihm liegenden Lebensenergien und Schöpferkräfte. Pazifismus ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst.»
Als Pazifist ging er zur Bundeswehr, als Marxist studierte er Psychoanalyse, als Therapeut wurde er Künstler. Immerzu suchte er die Verbindung der Gegensätze, immer auf der Suche danach, wie wirklich eine Veränderung möglich wäre. Nach «Angst im Kapitalismus» verliess er seine Laufbahn als angehender Professor, beendete seine Ehe, begab sich auf ein mehrmonatiges Retreat allein auf einen Bauernhof in Bayern. Dort erhielt er in der Einsamkeit zwei Botschaften: Die eine, nachts bei Minusgraden allein auf einem Berg, lautete: "Wenn du die Menschheit verstehen und ändern willst, dann gründe eine Gruppe und lerne, sie zu verstehen und zu heilen." Die andere war: «Das zentrale Krisengebiet unserer Zeit ist die Beziehung unter Menschen, speziell die Sexualität.»
Mit diesen beiden Themen – Gemeinschaft und Sexualität – hatte er ein Programm, das ihn das nächste halbe Jahrhundert beschäftigen sollte. Und das ihn daran hinderte, sich wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Die Sexualität als Politikum zu thematisieren und das nicht nur in der Theorie, sondern auch im Kulturaufbau, das war den meisten braven Linken dann doch zu heiss.
«Solange die intimste Sehnsucht unerlöst bleibt, wird der Mensch immer nach ideologischen, religiösen, beruflichen oder politischen Ersatzlösungen suchen. Denn das kollektive Unglück in der Liebe verlangt permanent nach Kompensation: Konsum, Sucht und Gewalt.»
1978 begegnete er der damals gerade geschiedenen alleinerziehenden Mutter Sabine Lichtenfels. Sie wurde seine Partnerin und ist es noch heute. Mit ihr und anderen gründete er die «Bauhütte» in Süddeutschland. Die Forschung an den innersten Themen hält bis heute an, auch wenn die Zusammensetzung der Gruppe sich inzwischen verändert hat. Weitere Projekte und Gemeinschaften entstanden – das ZEGG bei Berlin und schliesslich 1995 das Tamera in Portugal, eine Friedensforschungsgemeinschaft mit zwischenzeitlich 200 Mitgliedern. Hier lebt, schreibt und wirkt Dieter Duhm bis heute.
Die Gemeinschaft beschäftigte sich anfangs vor allem mit den menschlichen Tabuthemen – Sex, Gewalt, Autorität, Eifersucht. Der gesellschaftliche Gegenwind blieb nicht aus. Die Gruppe wurde als Sekte verdächtigt, der Begriff «freie Liebe» wurde mit Wonne falsch ausgelegt, die Gemeinschaft galt als Insel.
«Anfangs dachten wir, es wäre eine Sache von vielleicht drei Jahren, dann hätten wir die Grundlagen einer neuen Kultur exemplarisch in einer Gemeinschaft aufgebaut. Inzwischen wissen wir, dass wir es mit einer wirklich tiefen Transformation zu tun haben. Wenn es an einem Ort ganz gelingt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es an anderen Ort auch gelingt. Wir leben in der Zeit eines Epochenwechsels, dem Wechsel vom Patriarchat zu einer partnerschaftlichen Kultur, vom Hologramm der Gewalt zum Hologramm des Vertrauens.»
Wir leben in der Zeit eines Epochenwechsels, dem Wechsel vom Patriarchat zu einer partnerschaftlichen Kultur, vom Hologramm der Gewalt zum Hologramm des Vertrauens.
Die Gemeinschaft wuchs entsprechend Duhms Ideen eines «Kulturkristalls» oder «Heilungsbiotops». Demnach kann eine Gruppe, die alle anstehenden Themen in Vertrauen und Wahrheit aufgreift, heilend auf die Gesellschaft wirken. Als gelebtes Modell für eine Friedenskultur. Aus der Gruppe wurde ein weltweites Netzwerk aus Friedensgruppen, Aktivisten und Gemeinschaften, viele davon in Krisen- und Kriegsgebieten.
Als Führer einer Gemeinschaft war Dieter Duhm oft ungeduldig, unwirsch, streng. Lieber zieht er sich auf «seinen Berg» zurück und begleitet die Entwicklung der Gruppe und des Netzwerkes mit gebührendem Abstand – schreibend, theoriebildend, ideengebend. Mit der Zeit entwickelt er ein neues Verständnis von politischer Wirksamkeit. Er entdeckt ein inneres Wirkprinzip, das er schliesslich als «Heilige Matrix» bezeichnete.
«Wie kommt es, dass nach fünftausendjährigem Patriarchat noch Vögel zwitschern, Kinder spielen und Liebende sich im siebten Himmel fühlen? Irgendetwas im Leben scheint durchgehalten zu haben durch alle Qualen und Sackgassen der Geschichte. Etwas Heiles und Heiliges, etwas Ewiges vielleicht, das vom Kosmos kommt und nicht vom Menschen und das uns doch anvertraut ist bis in die tiefsten Wurzeln unserer Seele und unseres Leibes. Wir leben in der Gegenwart eines globalen Massakers an Mensch, Tier und Natur. Wir leben aber offensichtlich auch in der Gegenwart einer gänzlich anderen, unversehrten, heiligen Welt. Heilung heisst, sich mit dieser anderen Welt, die unsere ursprünglichste und eigenste ist, wiederzuverbinden und sie voll ins irdische Leben zu bringen.»
So reifte im Laufe der Jahre sein «Plan der Heilungsbiotope»: Auf der Grundlage gelebter Gemeinschaftserfahrung verbindet diese Strategie politische, spirituelle und wissenschaftliche Erkenntnisse. Trotz einer jahrelangen schmerzhaften Erkrankung arbeitet und lebt Dieter Duhm nach wie vor an ihrer Umsetzung. Heute wird er 80 Jahre alt. Wir gratulieren und sagen Dank für sein Gesamtwerk. Er hat viele Menschen inspiriert und auf ihren Weg gebracht.
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