Während das Coronavirus die Welt entschleunigte, schrieb die Soziologin und Friedensforscherin Laura Condrau ihre Masterarbeit über transrationale Friedensphilosophie. Im Zeitpunkt erklärt sie, was dies genau bedeutet und wie es uns helfen kann, mit aktuellen Konfliktsituationen umzugehen.

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Es war zu Beginn des Lockdowns in der Schweiz, als ich begann, meine Masterarbeit in Friedenswissenschaft zu schreiben. «Perfekt», dachte ich zuerst, «ich wohne in einer Jurte, in einer Gemeinschaft auf dem Land mit einem riesigen, wilden Garten neben einem Fluss, und der Frühling beginnt gerade. Was könnte friedlicher sein, als meine Masterarbeit zu Hause zu schreiben?» Doch so schön die äusseren Bedingungen auch zu sein schienen, zwang mich das Leben in der Gemeinschaft während des Lockdowns einmal mehr dazu, mir meiner eigenen Gewalt bewusster zu werden, meinen zerstörerischen Gefühlen, Gedanken und Handlungen. In meinem Zuhause teilen nämlich zehn Menschen eine Küche und ein Wohnzimmer. Dadurch werde ich tagtäglich anderen Denk- und Handlungsweisen konfrontiert. Und im Lockdown wurden die Begegnungen noch intensiver.

Die Gewaltspirale ist tief in uns selbst verankert, und ihre Transformation ist oft ein lebenslanges Unterfangen. Es ist kein Zufall, dass die Präambel der UNESCO-Charta wie folgt lautet: «Da Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, muss die Verteidigung des Friedens in den Köpfen der Menschen konstruiert werden.»

Ich möchte niemanden verurteilen, und schon gar nicht mich selbst. Meine innere Gewalt ist ein natürlicher Teil meiner menschlichen Natur. Doch um sie in etwas Positives verwandeln zu können, muss ich sie zuerst anerkennen und mir ihrer bewusst werden. Denn wie kann ich Frieden erfahren, wenn ich keine Gewalt kenne?

Der gängige Gewaltbegriff muss ergänzt werden. Normalerweise spricht man von direkter, struktureller und kultureller Gewalt. Doch dabei wird der Begriff der inneren Gewalt ausser Acht gelassen. Diese bezieht sich auf gewaltvolle Gedanken, Gefühle und Verhaltensmuster von Menschen. Solche so genannten Ego-Verteidigungsmechanismen beinhalten zum Beispiel Strategien, die der Mensch in seiner frühen Kindheit auf ganz natürliche Weise lernt. Normalerweise benutzen alle Erwachsenen tagtäglich unbewusst solche Abwehrmechanismen.

In der aktuellen Situation auf Grund der Coronakrise bin und war ich wahrscheinlich nicht die Einzige, die in ihrer unmittelbaren Umgebung viel Gewalt beobachtet hat. In meinem Freundeskreis, in meiner Familie und in den Medien bemerkte ich eine grosse Menge an direkter Gewalt zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen. Die Auseinandersetzungen trugen sich etwa zwischen Maskenträgern und Nicht-Maskenträgern zu, oder zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern. Als Friedensarbeiterin fragte ich mich: Wie können wir zu einem Dialog kommen, in dem die Vielfalt der Meinungen respektiert wird?

Ich muss zugeben: Mir selbst fällt es manchmal schwer, ruhig zu kommunizieren, wenn ich ganz anders denke als meine Gesprächspartner. Vor allem dann, wenn ich gleichzeitig mit vielen Andersdenkenden spreche. Und noch schneller verliere ich meine Gelassenheit, wenn sie aus meinen engsten Kreisen kommen, in denen das Vertrauen und die Authentizität am grössten sind.

Die japanische Erziehungswissenschaftlerin Heesoon Baai erklärt, dass die meisten Menschen Schwierigkeiten damit haben, mit der Vielfalt dieser Welt zu leben. Der Grund dafür ist das menschliche Ego, das sich vor allem fürchtet, was anders, neu oder unbekannt ist. Um diese Unterschiede zu akzeptieren, müsse man sein eigenes Ego loslassen. Das bedingt aber einen tiefgreifenden Wandel von einem egozentrischen zu einem post-egozentrischen Weltbild. Das heisst: Wenn wir Frieden wollen, müssen wir unser Ego loslassen und uns in ein Bewusstsein begeben, das die anderen nicht als anders oder von uns getrennt wahrnimmt, sondern als grundlegend mit uns verbunden.

Dies beschreibt genau jenen Wandel, den die transrationale Friedensphilosophie beschreibt. Der Begriff transrational bedeutet, dass das Rationale nicht an sich abgelehnt wird, sondern dass man es anerkennt und noch darüber hinausgeht. Ein zentraler Aspekt der transrationalen Friedensphilosophie ist die so genannte «elicitive Konflikttransformation». Diesem Ansatz zufolge entspricht ein äusseres Ereignis – wie etwa ein Streit zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen – immer einer entsprechenden Blockade im Inneren des Individuums. Eine äusserliche Veränderung ist deshalb nur möglich, wenn diese Blockade aufgelöst werden kann. Methoden dafür sind zum Beispiel Tanz, Atemarbeit, Kampfsport oder Meditation.

Meiner Ansicht nach kann die Situation, in der wir uns zurzeit befinden, eine Chance sein, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden, die so tief in uns verwurzelt sind. Zumindest ist es mir so ergangen. Während des Lockdowns wurde ich mit Streitigkeiten mit meinen nächsten Angehörigen, Freunden und der Familie konfrontiert. Gleichzeitig wurde mir bewusster, welche Verhaltensweisen, Gedanken oder Gefühle ich loslassen möchte.

Ein Beispiel: Das Verhältnis zwischen mir und meiner Schwester war immer etwas angespannt, weil wir sehr unterschiedliche Ansichten und Lebensstile haben. Am Osterwochenende 2021 war ich in der Lage, mit meiner Schwester zu reden, ohne in eine Abwehrhaltung zu geraten. Ich wies auf unsere destruktive Kommunikation hin und sagte, dass es wichtig sei, unsere Unterschiede anzuerkennen. Das Ergebnis war ein Moment der Verbundenheit zwischen uns. Seither zeigen wir mehr Akzeptanz für unsere verschiedenen Lebensstile und schätzen unsere Schwesternschaft trotz unserer Unterschiede. Sicherlich ist noch nicht mein ganzes Leben im Frieden, und es wird immer wieder Momente geben, in denen ich herausgefordert werde. Aber ich sehe diese Erfahrung als ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, uns unserer inneren Gewalt bewusst zu werden.

Wenn wir anerkennen, dass der Ursprung für Frieden in inneren Aspekten eines Konflikts zu finden ist, können wir uns in eine gute Richtung entwickeln. Hin zu Akzeptanz, zum Loslassen und zu einer transrationalen Weltanschauung. Diese Entwicklung ist eine Reise, auf der wir lernen, dass wir so sein können, wie wir sind, ohne diejenigen, die nicht so sind wie wir, zu beschimpfen oder abwerten zu müssen. Es ist eine Reise, auf der wir lernen, ohne Angst in einer vielfältigen Welt zu leben. Und eine Krise kann uns helfen, diese Reise zu beginnen, weil sie unsere inneren Gewaltstrukturen sichtbar macht.


Laura Condrau schloss nach einem Studium in Soziologie im Januar 2021 den Masterstudiengang in transrationaler Friedensforschung an der Universität Innsbruck ab. Sie organisiert unter anderem das Online-Friedensfestival friedensfestival.ch

Die englische Originalversion dieses Textes wurde zuerst im Many Peaces Magazine veröffentlicht.