Loslassen oder aufgeben?

Der Unterschied ist gross und will gut überlegt sein.

Erste Erfahrungen mit dem Loslassen sammelten wir bereits in der Kindheit. Wenn uns zum Beispiel ein Ballon entwischte und wir ihm zusehen mussten, wir er weiter und weiter in den Himmel stieg. Vielleicht weinten wir oder staunten, wie hoch er fliegen konnte, bis er als winziges Pünktchen aus unserem Blickfeld verschwand. Vielleicht liessen wir den Ballon auch absichtlich fliegen, neugierig, wie gut er das wirklich kann.
So verschieden eine solche Erfahrung erlebt werden kann, so unterschiedlich gehen wir mit dem Loslassen auch später um. Wir lernen eher festzuhalten. Das fängt bei unserer Identität an. Wir identifizieren uns mehr oder weniger mit Erfolg, mit Besitz, mit Beziehungen, mit Nationalität, mit unserem Aussehen und allem, was uns im Spiegel einen Wiedererkennungseffekt beschert. Sonst hätten wir vermutlich ein Identitätsproblem.

Anders sieht das der 1986 verstorbene indische Philosoph und Mystiker Jiddu Krishnamurti: «Dieses Verlangen nach Rang, nach Ansehen, nach Macht, dieser Wunsch, in der Gesellschaft als etwas Besonderes anerkannt zu werden, ist das Verlangen, über andere emporzuragen und sie zu beherrschen, und dieser Wunsch ist eine Form der Aggression.» Krishnamurti zufolge ist Identität, wie sie gesellschaftlich gefördert wird, eine Illusion und führt zu einer künstlichen Trennung.

Das Festhalten ist also verbunden mit einem Wunsch nach Besitz. Loslassen wäre demnach die Akzeptanz, dass wir letztlich nichts besitzen werden und dass wir in unserer derzeitigen Form vergänglich sind. Sokrates soll ja gesagt haben: Philosophieren heisst sterben lernen – man könnte auch sagen: leben heisst loslassen lernen.

Anders ist es mit dem Aufgeben: Hier spielt weniger die Akzeptanz eines universalen Prinzips eine Rolle als mehr die Resignation. Vielleicht würden wir nach wie vor gern ein Ziel erreichen, aber uns fehlen der Durchhaltewillen und der lange Atem. Vielleicht erscheint uns auch der Aufwand zu gross. Das Aufgeben ist meistens begleitet von einem Gefühl der Frustration, denn es ist ja nicht zwingend so, dass uns das angestrebte Ziel nicht mehr sinnvoll erscheint.

Also stellt sich die Frage, ob wir einfach aus Bequemlichkeit aufgeben, oder weil das angestrebte Ziel fragwürdig wurde. Fühlen wir uns wie Sisyphos, der vergessen hat, wieso er seinen Stein überhaupt den Berg hochrollt? Nicht selten erfüllen uns aber gerade jene vollendeten Prozesse mit grosser Befriedigung, die begleitet waren von Zweifeln und der Phantasie, alles hinzuschmeissen. Wer ein Musikinstrument zu spielen gelernt hat, kennt diese Frustrationsphasen sehr gut. Wenn man keine Bereitschaft hat, das auszuhalten, wird man vermutlich von einem Hobby zum nächsten eilen. Aber da wir ja bekanntlich selber unsere härtesten Kritiker sind, ist es auch wichtig, etwas Nachsicht mit uns zu üben. Es ist in Ordnung, manchmal aufzugeben und den Stein am Hang zu lassen. Und bisweilen können besonders interessante Biografien entstehen, wenn ein Lebenslauf zwischendurch von Scheitern gekennzeichnet ist. Menschen, die nur pflichtbewusst durchs Leben gehen, werden weniger an gesellschaftlichen fragwürdigen Normen kratzen als die weniger Angepassten. Also muss man sorgfältig unterscheiden: Gibt man zu früh auf oder ist es eine bewusste Kursänderung? Wenn die Entscheidung aufzugeben einmal gefallen ist, käme wieder das Loslassen ins Spiel. Nun geht es darum, die Nase in den Wind zu halten und das Scheitern oder vorzeitige Beenden sowie den Neubeginn als zutiefst menschliche Angelegenheiten zu akzeptieren.
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Literatur: Jiddu Krishnamurti: Einbruch in die Freiheit. München 1973, S. 57.

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