Wer nicht mit den Wölfen heulen will, hat einen schweren Stand. Er entzieht sich dem Schwarz-Weiss-Denken und begibt sich in den Dschungel der Mehrdeutigkeiten. Kolumne.

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Plötzlich war sie da, diese ungeschriebene Regel, und niemand wusste, woher sie kam. Eines der Mädchen unserer Schulklasse war plötzlich nicht mehr okay, und es bildeten sich zwei Gruppen: Die eine war gegen das Mädchen und die andere Gruppe, meist kleinere, die alle Aussenseiterinnen vereinte, stand zu ihr. Ich besuchte damals die zweite Primarschulklasse, war schüchtern, unsicher und wollte unter keinen Umständen zu den ausgegrenzten Mädchen gehören. Obwohl ich mich unwohl fühlte und ahnte, dass unser Verhalten «Scheisse» war, machte ich trotzdem halbherzig mit und beschimpfte die andern. Es galt: Wer nicht GEGEN diese war, war automatisch FÜR sie und wurde auch ausgestossen.

In etwas weniger dramatischer Form gab es damals auch eine andere Gruppe: Mädchen gegen Jungs. Wer sich mit einem Jungen abgab, war ein «Buebeschmöcker» und kam automatisch in die Gruppe der verpönten Mädchen.

Es grenzte fast ein Wunder, dass die Eltern nicht mit Fäusten aufeinander losgingen.

Leider war dies nicht bloss Kinderkram, denn später, in meiner Karriere als Mutter, wiederholte sich dasselbe Verhalten unter Erwachsenen: In «Fussball-Grümpeltournieren» waren die Mädchen weitaus weniger angriffslustig als die sie coachenden Eltern. Es grenzte fast ein Wunder, dass diese nicht mit Fäusten aufeinander losgingen. Zum Glück hatte ich inzwischen genug innere Stärke gewonnen, so dass ich mich diesem Spiel problemlos entziehen konnte. Es war mir egal, was die Streithähne von mir dachten. Wichtiger war es mir, den Kids ein gutes Vorbild zu sein.

Das war allerdings zuweilen kein einfacher Weg. Als meine Tochter von einem Jungen aus ihrer Klasse so grob am Arm gepackt wurde, dass sie verletzt zum Arzt musste, informierte ich die Mutter des Jungen. Wir vereinbarten ein gemeinsames Treffen mit den Kindern. Meine Vorstellung war, dass wir dem Jungen beibringen könnten, wie man sich gewaltlos auseinandersetzen kann. Ich spielte das Gespräch vorab in Gedanken durch, mit dem Ziel, den Jungen nicht blosszustellen und ihn vor strenger Bestrafung zu schützen. Umso perplexer war ich, als seine Mutter sein Verhalten verharmloste und meinte, Jungs würden sich halt mit Schlägen durchsetzen. Ich verstand die Welt nicht mehr!

Dieses unschöne Spiel scheint heute zum normalen Umgang zwischen Erwachsenen zu gehören. Man ist FÜR oder GEGEN etwas oder jemanden, und wenn man nicht FÜR ist, dann ist man automatisch GEGEN. Dabei gibt es jeweils nur zwei Möglichkeiten, die Welt wird in ein vereinfachtes Schwarz-weiss-Schema gezwängt. Der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer schrieb, dass unsere heutige Gesellschaft die Vereindeutigung auf Kosten von Mehrdeutigkeit und Vielfalt suche. Die Welt scheint hauptsächlich aus absoluten Wahrheiten zu bestehen, und es gibt nur noch die abgrundtief Bösen und die absolut Guten. Sollten Zweifel daran hochkommen, so ist man automatisch auf der Seite der Bösen.

Es gibt einen Psychologenwitz: Ein Paar ist beim Therapeuten. Die Frau beklagt sich über ihren Mann und der Therapeut meint: «Sie haben Recht.» Nun beklagt sich der Mann über seine Frau. Und wieder gibt der Therapeut, nun aber dem Mann, Recht. Da empört sich die Frau: «Sie können doch nicht beiden gleichzeitig Recht geben.» Und wieder sagte der Therapeut: «Da haben sie auch wieder Recht.»

Was uns zum Lachen bringt, beinhaltet doch ein Körnchen Wahrheit: Wenn wir versuchen, zwei konträre Perspektiven unvoreingenommen und einfühlend anzuschauen, ist es uns möglich, beide Seiten zu verstehen und es fällt uns schwer, die eine gegen die andere auszuspielen. Dadurch ebnen wir den Boden für eine gegenseitige Verständigung und es wird möglich, zu einer neuen, übergeordneten Perspektive zu finden, bei der Teile beider Wahrheiten zu einer grösseren integriert werden.

Ich bin froh, dass ich aus meinen Kindheitsfehlern lernen durfte und es mir leichter fällt, konträre Standpunkte ohne zu werten anzuschauen. Dadurch bin ich zwar oft zwischen allen Fronten, stehe aber dafür zu mir selber. 

 

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Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.

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