Musst du? Wer sagt das?

In gewissen Kreisen ist es üblich geworden, alles zu dürfen und nichts mehr zu müssen. Das ist kein lustiges Sprachspiel, sondern entspricht letztlich transhumanistischen Denkmustern. Die Samstags-Kolumne.

Foto: Anna Shvets

A: Oh, schade, dass ich jetzt schon aufbrechen muss. Ich muss zu einem Konzert eines guten Freundes gehen.
B: (Augenrollen). Musst du oder darfst du?
A: Äh, ich muss, also, es ist natürlich schön, dass ich hindarf.

So oder ähnlich sehen sich heute Menschen, die zwischen müssen und dürfen unterscheiden wollen, eines vermeintlich Besseren belehrt.

C: Also ich muss gar nichts mehr. Ich darf. Das gibt mir ein besseres Lebensgefühl.
A zu B (nach einigem Nachdenken): Also, für mich macht es einen Unterschied, ob ich zu einem Anlass gehen muss oder darf: Ich darf zu einem Konzert gehen, bedeutet, dass ich zu einem auserwählten Kreis von Eingeladenen gehöre. So ist es aber nicht. Ich muss zum Konzert, weil ich es meinem Freund versprochen habe.

Mit Neusprech beginnt der Totalitarismus.

D: Ich entscheide mich jeden Morgen, zu Schule zu geben.
A: Wenn du dich ein paar Tage anders dagegen entscheiden würdest, wärst du deine Stelle ganz schön schnell wieder los.
D: Ich entscheide mich aber jeden Tag wieder neu für die Schule.
A: Aber das ist ja keine richtige Entscheidung. Im Wort Entscheidung steckt die Scheidung, das Nein sagen. Man entscheidet sich für oder gegen eine Sache.
D: Ich brauche diese Freiheit, mich jeden Tag aufs Neues für etwas zu entscheiden.
A: Du wendest also bewusst Sprache falsch an?
D: Lass mich sprechen, wie ich will, ich gewähre dir die Freiheit ja auch.
A: Falsch: Sprache ist eine Konvention. Nicht jeder kann Sprache anwenden, wie er gerade will.

Interessant ist übrigens, dass die Negation der beiden Modalverben müssen und dürfen eine Bedeutungsumkehr bewirkt: «Ich darf nicht» umschreibt ein Verbot. «Ich muss nicht» heisst: Ich kann mich frei entscheiden. Schade, wenn auch diese beiden Bedeutungen zusammengestrichen würden.

Schade, aber nicht ungewöhnlich für totalitären Sprachgebrauch. Neusprech. Wir müssen wieder mal George Orwells Neusprech ins Feld führen. In seinem Roman «1984» werden Wörter vereinfacht, fallen mit ihrem Gegenteil zusammen oder werden ganz eliminiert. Zweck ist die Gedankenkontrolle. Mit Neusprech beginnt der Totalitarismus.

«Müssen» als Auslaufmodell zu betrachten, es vom Sprachgebrauch zu streichen und mit «dürfen» zusammenfallen zu lassen, ist Neusprech. Mit dem «Müssen» werden Pflicht, Versprechen und Aufgaben auf die Abfallhalde gekippt. Übrig bleiben Menschen, die wie in den Dystopien des 20. Jahrhunderts sonniglächelnd ihren Alltag verklären. Jammern und Klagen ist nicht mehr. Schliesslich ist ja alles selbstgewählt und also bewältigbar. Willkommen in der Welt der Reklame. Und wer doch einmal Wut oder Überforderung spürt, der kann die Gefühle «willkommen» heissen und sie umdefinieren. So funktioniert Selbstmanipulation.

Das Wegbedingen von Pflichten und deren Last macht die Welt zu einem postmodernen Ort aus Wille und Vorstellung. Ohne Wahrheit. Ohne Essenz. Ohne Widerstand. Ohne Du. Ohne Grenzen. Denn: Die Widerständigkeit des anderen zeigt mir dessen Grenzen auf. Mein Widerwille wiederum weist meinen Willen in die Schranken.

Das Du, die Wahrheit, die Essenz, daran muss menschliches Streben immer wieder scheitern. Das anzuerkennen ist Demut. «Müssen» zu eliminieren bedeutet, die conditio humana zu leugnen. Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen.

Vielleicht ist es zu gewagt, die Einebnung des Unterschieds von «Müssen» und «Dürfen» mit dem transhumanistischen Denken verknüpfen zu wollen. Und dennoch: Auch die Transhumanisten möchten die Beschränktheit der menschlichen Bedingtheit aufheben. Auch sie eliminieren «Müssen» im Sinne von materiellen oder moralischen Geboten. Für sie wird das «Dürfen» grenzenlos. Die Transhumanisten möchten nicht nur das menschliche Gehirn mit Biocomputern verkuppeln und Gebärmütter nachbauen. Der Transhumanist, der sich über allem Müssen und der menschlichen Komplexität erhebt, entledigt sich letztlich des Menschen.

Müssen zu eliminieren bedeutet, die conditio humana zu leugnen.


E: Ich darf morgen wieder zehn Stunden arbeiten.
A: Es kotzt mich voll an, dass morgen die Ferien aufhören.

In dem Sinne wünsche ich uns allen mehr Dreck und weniger Transhumanismus.