Aufeinander hören und miteinander singen – die Klangwelt Toggenburg bringt die Menschen zusammen. Die feinen Töne im Ostschweizer Bergtal bremsen sogar die Abwanderung.

Prolog. Die menschliche Stimme hat mich seit einem Schlüsselerlebnis ebenso wenig losgelassen wie das Spiel von laut und leise. Am besten spüre ich es in Chorwerken wie Peter Roths «Silence – Lob der Stille», das ich vor kurzem im Kloster Kappel am Albis mit dem Chorprojekt St. Gallen erlebt habe. Es braucht Mut, das Geheimnis Stille mit Musik einzufangen. Peter Roth, Musiker und Komponist aus Unterwasser, versteht Stille nicht als Abwesenheit von Musik, er versteht sie als Urgrund, aus dem die Musik kommt und zu dem sie zurückfliesst: «Voraussetzung, dass sich der Klang entfalten kann, ist die Stille.» Ich sah in der Kirche, wie die Sänger und der Chorleiter zuallererst auf die Stille der Kirche horchten, bevor sie den Worten Klang gaben; ich sah, wie Peter Roths Hände lautlos das Flüstern und das Rufen dirigierten. Aufeinander hören, dann miteinander singen oder spielen – nur so entsteht Musik, die im Zuhörer einen Resonanzraum öffnet, der sonst verschlossen bliebe. Diesen Resonanzraum braucht der Klang «wie einen Verstärker», sagt Peter Roth. «Die Stille ist ein unbekanntes Land, der Weg zu ihr wie ein Gang in die Wüste.»

Die erste Etappe des Klangwegs Toggenburg  wird am 18. September 2004 eingeweiht. Was dereinst 25 Klanginstallationen umfassen wird, ist noch im Aufbau. Stolz führen die Initianten die Besucher, darunter zahlreiche Familien mit Kindern, und Vertreter der Medien den knorrigen Weg entlang, von der Bergstation Iltios in Unterwasser hinab zum Ziel am Schwendisee. Hier erfahren wir von Instrumentenbauer Ferdinand Rauber, dass Stein klingen kann; da summen wir in die «Vogel-Strauss-Höhlen» hinein und hören, wie die Luft die  Schwingung aufnimmt; drüben, in Heinz Bürgins «Klangmühle», lauschen wir der reichen Welt der Obertöne, die allem Lauten das Leise zurückgeben. Die Stationen auf dem Klangweg laden ein, mit Geräuschen und Klängen zu experimentieren – und mit der eigenen Stimme. Dieser Weg ist Teil eines grossen Projekts: der «KlangWelt Toggenburg». Mitinitiiert hat sie Peter Roth. Denn hier, zwischen Alpstein und Churfirsten, ist der Klang seit ewigen Zeiten daheim. Ebenso drüben im Appenzellerland, ebenso im Tirol und überall entlang des Alpenkamms. Da, wo sommers Kühe und Geissen auf die saftigen Alpweiden getrieben werden; wo ihnen, damit sie nicht verlorengehen, Schellen und Glocken umgehängt werden; wo sie mit Küh- und Geissreihen zum Melken zurückgelockt werden. «Klang ist die Basis der Alpkultur vom Naturjodel über den Löckler und den Alpsegen bis zu den Schellen», sagt Peter Roth. «Mit KlangWelt Toggenburg wollte ich den Menschen im Toggenburg eine kulturelle Identität vermitteln und sie mit Gesang und Musik anderer Kulturen verbinden.» 

Klang und Naturtongesang haben eine jahrhundertealte Tradition im Toggenburg wie im ganzen Alpenkamm.

Naturton, Jodel und in Instrumente gelockte Klänge begleiten den Menschen seit Jahrtausenden, seit er seinen Tieren hinterher wandert, weil sie ihm Nahrung und Kleidung schenken. Das Appenzellerland hat den einzigartigen Schellen-Dreiklang von den Tirolern gelernt: Drei Leitkühe mit wuchtigen, in einer Terz gestimmten Schellen führen die Alpfahrt an. Und wenn die Sennen an steilen Stellen im Alpstein die Schellen übernehmen, jodeln sie dazu, in Naturtonfolgen, mehrstimmig und oft improvisiert. Und seit 1597 kirchlich getrennt: «Zäuerli» heissen sie in der inneren, katholischen Rhoden, «Ruggusserli» in der äusseren, reformierten Rhoden. Und weil die Jodler dies längst nicht nur bei der Alpauffahrt tun, kommen Naturtonliebhaber auch anderswo in den Hörgenuss.
Promiment beim Klangfestival «Naturstimmen», seit 2004, als es erstmals in Alt St. Johann ausgetragen wurde. Zwei Jahre davor hatten die Toggenburger Gemeinden ihrer Regionalplanungsgruppe grünes Licht gegeben, Leben und Arbeiten im Tal zu fördern. Denn das Toggenburg litt nach dem Zusammenbruch der Textilheimwirtschaft unter Abwanderung und sinkendem Tourismus. Das Toggenburg nahm das Heft in die Hand, liess seine Delegierten im Sommer 2002 über ein «Regio-plus-Projekt» abstimmen. Mit solchen unterstützt der Bund den Strukturwandel im ländlichen Raum. Und wollte, selbstbewusst, das Projekt auch dann verwirklichen, wenn Bund und Kanton bei der Finanzierung nicht mithelfen würden. Für die Regionalplanungsgruppe im «Armenhaus St. Gallens» war es wichtig, dass das Projekt auch von der Bevölkerung mitgetragen wird – eine Konstante, die sich bis heute durch die Diskussion über die Teilprojekte «Nachhaltiger Tourismus», «Regionale Produkte» und «Landschaftspark Toggenburg» zieht. Die «Klangwelt Toggenburg» – um die es hier geht – sollte nicht nur die Tradition des allgegenwärtigen Klangs unterstützen, sondern auch den Tourismus ankurbeln. Denn die Landwirtschaft schrumpfte, die Fabriken schlossen, die Klimaerwärmung bedrohte die Skigebiete. Was im Grunde Kultur ist, begann als Projekt der Wirtschaftsförderung. Es wurde geboren aus dem Geist, der hörbar war, als das Dorf Alt St. Johann 2002 seinen 850. Geburtstag feierte, mit Peter Roth an der Spitze, dem Obertoggenburger Musiker und Komponisten.

Naturstimmen-Festival 2006: Tenores San Gavino De Oniferi aus Sardinien in der kath. Kirche Alt St. Johann. Bild: DL

 

Dafür musste ein Prestigeobjekt her. Ein Klanghaus, von Stararchitekt Peter Zumthor erbaut. Das bedingte Mäzene, denn Zumthor baut gut, aber teuer, und er baut meist teurer als projektiert. Peter Roth fährt 2002 aus dem heimischen Toggenburg ins bündnerische Haldenstein, redet zwanzig Minuten mit Zumthor, beschwört die Stille des Schwendisees und den natürlichen Resonanzraum der Seemulde vor den Churfirsten. Und Zumthor bescheidet Roth: «Wenn Sie Geldgeber für das Klanghaus suchen, können Sie sagen, der Zumthor baut’s.»
Das Klanghaus soll dorthin kommen, wo bereits das Seegüetli steht: ein Kurshaus für Musik und kulturelle Begegnung. Für sechs bis acht Millionen Franken, wie der Prospekt angibt, mit dem Peter Roth und seine Mitstreiter Geldgeber suchen. Erbaut aus den einheimischen Hölzern Fichte und Ahorn. Mit Kursräumen, Klangerfahrungsräumen und einem Tonstudio für Profis. Gedacht als «Herzstück und Kristallisationspunkt» der geplanten KlangWelt Toggenburg, aber nicht Teil von ihr – der Bund unterstützt Investitionsvorhaben nicht.

Die KlangWelt Toggenburg baut auf das Brauch­tum und die Musiktradition im Toggenburg; sie baut auf das, worin das Toggenburg seit Jahrhunderten seine Identität findet: Naturstimmen, Jodel, Instrumentalmusik. Die klugen Ziele der KlangWelt: ein für die Schweiz neuartiger Klangweg, der Ausbau des bestehenden Kursangebots zu Musik und Klang, vielleicht Chor- und Kammermusikwochen. Und ein Naturtonfestival, an dem einheimische und fremde Kulturen einander begegnen, alle zwei Jahre alternierend mit «Alpentöne» in Altdorf. Ideengeber und Spiritus rector und späterer künstlerischer Leiter ist Peter Roth.
2004, von Auffahrt bis Pfingsten, singen am ersten A-Cappella-Festival Naturstimmen Chöre und Solisten aus aller Herren Länder: aus Rumänien und Korsika, Frankreich und Angola, aus der Mongolei, dem Kongo und der Schweiz. In Alt St. Johann trifft der Jutz auf Blues und Obertongesang. Im Juni erhält KlangWelt Toggenburg den Preis der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete SAB, im September wird die erste Etappe des Klangwegs eingeweiht. Dann kommt die KlangWelt ins Stocken.

«Wohin geht der Klang, wenn er verklingt? Gibt es mehr als das Hörbare und Sichtbare?» Peter Roth

Das Stimmvolk des Kantons St. Gallen sagt Nein zum Zukunftsfonds. Selbst die Toggenburger sagen Nein, die Bevölkerung scheint nicht hinter dem Klanghaus zu stehen. Obwohl der Klangweg ein Renner ist und die KlangWelt den Rückgang der Übernachtungszahlen gebrochen hat, obwohl eine Studie der Fachhochschule Chur den Businessplan bestätigt: Das Klanghaus bringe Beschäftigung und Wertschöpfung ins obere Toggenburg.

Zurück auf Feld eins? KlangWelt Toggenburg macht weiter, vollendet den Klangweg, schafft mit «Saitenwind» ein neues, stilübergreifendes Instrumentalfestival, dann mit «Rockbrett» ein drittes – beide werden mangels Resonanz nicht überdauern. Sie gründet eine Stiftung zur Professionalisierung, will das Tal als internationale Klangadresse etablieren, erfindet mit der Klangwellness ein neues Produkt (das unter den Erwartungen bleiben wird) und baut eine Klangschmiede für Klangvermittlung und Klangerforschung. Sie findet Anklang und bleibt. Die KlangWelt schwillt an und ab.
Toggenburg Tourismus steht hinter der KlangWelt, doch die nicht unbedeutende Skepsis in der Talbevölkerung bleibt, jene im fernen St. Gallen und im fernen Rheintal ebenso.  Der Kanton schreibt einen Thesenwettbewerb aus, weil die Direktvergabe des Klanghauses an Peter Zumthor gestoppt worden war – Zumthor beteiligt sich nicht daran. Der Kanton soll es für 25 Millionen bauen, die Stiftung Klangwelt betreiben, das Volk wird an der Urne mitreden. Inzwischen wird die Führungsetage der KlangWelt Togggenburg umgebaut: Die Schwyzer Jodlerin Nadja Räss löst den künstlerischen Leiter Peter Roth ab und wird zugleich Intendantin, führt also auch den operativen Bereich.

Hören, staunen, ausprobieren: Die erste Etappe des Klangwegs wird 2004 eröffnet. Bild: Dieter Langhart
 

Der Klangweg zieht Sommer für Sommer 30’000 Wanderer an, 6000 Besucher kommen ans Naturstimmenfestival, 6000 jedes Jahr in die Klangschmiede – die KlangWelt ist zum Markenzeichen der Region geworden, zwei Drittel der Wertschöpfung in den Talgemeinden stammt aus dem Tourismus. Der Kanton will zwar weiter auch in den ländlichen Regionen die Kulturinfrastruktur fördern, fordert aber ein klares Bekenntnis zum Klanghaus. Eine Interessengemeinschaft Klanghaus engagiert sich inzwischen für das neue, überarbeitete Projekt, das den Kanton nur noch 19 Millionen kosten soll. Trotz Widerstands der SVP genehmigt der Kantonsrat in der ersten Lesung Ende 2015 den Kredit, doch in der Schlussabstimmung im folgenden März scheitert der Kantonsbeitrag an fünf fehlenden Stimmen. «Würdeloser Todesstoss fürs Klanghaus» schreibt die Regionalzeitung, «faule Allianz gegen Klanghaus» die NZZ.

Da capo mit dem Klanghaus 2.0. Die KlangWelt Toggenburg nimmt die Kritik ernst, die vor allem wegen des jährlichen Betriebsdefizits von 325 000 Franken aufgekommen war, und will dem restlichen Kanton beweisen, dass das ganze Tal hinter dem Projekt steht. Startet eine Petition, die innert kurzer Zeit von 10 000 Unterstützern unterzeichnet wird. Eine Interessengemeinschaft engagiert sich für das Klanghaus, die Taskforce Klanghaus 2.0 legt der Regierung ein überarbeitetes Projekt vor. Bis nächsten Sommer soll es beim Kantonsparlament sein. Sagt es diesmal Ja, hat endlich das Volk das Sagen. Und muss überzeugt werden von der Notwendigkeit eines Klanghauses am Schwendisee. Sonst heisst es wieder: da capo. Wenn überhaupt.
Peter Roth hat 2012 in einem Interview gesagt: «KlangWelt Toggenburg hat Resonanz mit dem, was man als Zeitgeist bezeichnen könnte. Klang bringt die Menschen zu sich selbst, Klang verbindet die Menschen mit ihrer eigenen Kultur und der Natur des Toggenburgs, und Klang schafft Verbindungen über kulturelle und nationale Grenzen hinaus.» Und Peter Roth sagte auch: «Die Menschen werden wieder stärker lernen, nach innen zu hören, und dann entdecken, dass alles mit allem verbunden ist. Das ist aber die Voraussetzung für einen sorgsamen Umgang mit Mitmenschen und Natur. Ich bin da ganz hoffnungsvoll.»

Epilog. Ich habe Rotz und Wasser geheult an Ende jenes Septembernachmittags 2004 unweit des Schwendisees. Ich habe etwas gehört, das mir unbekannt war: die Männerstimme. Sie hat mich tief drinnen berührt, ich bin ihr seither verfallen. An jenem Tag war ich traurig, dass ich nicht so singen kann wie die Toggenburger, weil mich mein Singlehrer durch Tonleitern und Lieder gequält hatte, als mir nur Robert Plant und Ian Gillan wichtig waren; weil er mir das Singen restlos ausgetrieben hat. Doch es gibt Menschen, die mir versichern, dass ich singen könne, wenn ich nur wolle. Felicia Kraft etwa, die Sängerin von Tritonus (siehe Seite 17), mit der ich durchs Toggenburg gewandert bin; meine Partnerin, die im Reservoir der Mãe d’Agua in Lissabon und in einer kleinen Kirche auf dem Heinzenberg für mich sang und ich mich wieder zu singen getraute; vor einigen Jahren auch Peter Roth, als er über das kommende Naturstimmen-Festival informierte und die Journalisten zum «Gradhebe» aufforderte. Ich konnte den Ton gradhebe und spürte dasselbe Gefühl wie damals beim Naturjodel am Schwendisee und war stolz und niemand sah meine Tränen.

KlangWelt Toggenburg

Das Toggenburg ist geprägt von einer ursprünglichen Gesangs- und Musikkultur, die in der einheimischen Bevölkerung stark verwurzelt ist. Seit 2003 werden Aktivitäten und Angebote unter dem Namen «KlangWelt Toggenburg» zusammengefasst, die die wichtigsten Formen dieser Musikkultur vermitteln und die Verwandtschaft mit Traditionen auf der ganzen Welt aufzeigen. Mit Projekten werden Naturtöne erlebbar und schlagen so Brücken zwischen lokaler und fremder Kultur. Kennzeichnend für diese einzigartige Klangkultur sind die untemperierten Naturtöne, die überraschende Verbindungen zu anderen Musikkulturen in Europa, Afrika und Asien herstellen. Gerade solche Brückenschläge zwischen lokaler und fremder Kultur, aber auch die Spannungsverhältnisse zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Spiritualität und Alltäglichkeit, zwischen freiem Experiment und strenger Form machen die Lebendigkeit der KlangWelt Toggenburg aus.
KlangWelt Toggenburg bietet vielfältige Erleb­nisse zum Thema Klang in Kursen, auf dem Klangweg, bei Festivals und Konzerten, in der Klangschmiede und in ein paar Jahren hoffentlich auch im Klanghaus am Schwendisee. Die hochstehenden Angebote richten sich an Laien, Hobby-Musikanten, Berufsmusiker, Geniesser, Familien oder an Personen, die sich einer «neuen» Klangwelt öffnen möchten. Sie ermöglichen den Gästen einen Weg zu sich selbst, zur inneren Mitte, zu Stille und Ruhe.    Red.

www.klangwelt.ch

 

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