Eine Stellvertreter-Niederlage bahnt sich an
Die «drei Könige» Macron, Scholz und Draghi reisten nicht mit Geschenken nach Kiew, sondern mit der Forderung nach Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.
Während die Mainstream-Medien weitere Waffenlieferungen und die Unterstützung einer EU-Mitgliedschaft in den Vordergrund stellten, zeigt die Medienkonferenz zum Abschluss des Kiew-Gipfels ein ganz anderes Bild: Die Ukraine soll mit Russland verhandeln, die EU wird weitgehend abseits stehen. Der Stellvertreterkrieg soll offenbar mit einer Stellvertreterniederlage enden.
Im Newsletter von gestern wagte ich die Ankündigung, dass Macron, Scholz und Draghi mit Forderungen nach Verhandlungen nach Kiew reisen und nicht mit Panzern und Raketen.
Die Vermutung hat sich bestätigt. Es wurden zwar Waffenlieferungen bestätigt und die Unterstützung der EU-Kandidatur der Ukraine zugesichert. Das stand in der Berichterstattung der Mainstream-Medien erwartungsgemäss im Vordergrund.
In der abschliessenden Medienkonferenz ging es aber nicht um Krieg, sondern vor allem um Verhandlungen, die zu einem Frieden führen sollen.
Es sei nötig, dass dieser Konflikt so schnell wie möglich in irgendeiner Form zu einem Ende komme, erklärte der souverän wirkende französische Präsident Emanuel Macron. Die Worte schienen bewusst gewählt. Die Formalitäten würden von der Ukraine bestimmt. Frankreich und Deutschland würden niemals für die Ukraine verhandeln.
Kanzler Olaf Scholz doppelte nach: Wir seien noch «sehr sehr weit von einem Frieden entfernt».«Nur die Ukraine kann entscheiden, was richtig ist im Rahmen einer Vereinbarung [mit Russland].» Russland müsse aber klar gemacht werden, dass es keinen Diktatfrieden durchsetzen könne. «Darauf kann sich jeder verlassen» (das haben wir alle gehört). Diesem Zweck sollen die Waffenlieferungen dienen.
Etwas verklausulierter äusserte sich Mario Draghi. Das Treffen in Kiew sei eine Manifestation der Einheit – «wir unterstützen die Kandidatur der Ukraine für die Mitgliedschaft in der EU». Nette Worte. Aber: Europa stehe in einer fundamentalen Entwicklung, die Reflexion erfordere.
«Wir sind hier, um die Ukraine in diesem Krieg zu helfen. Wenn sich die Ukraine nicht verteidigt, wird es keinen Frieden geben. Wir sind da, um die Ukraine im Frieden zu unterstützen. … Wir sind da, um die Ukraine in ihrer Zukunft zu unterstützen. Jenseits des Schreckens des heutigen Besuches liegt der Wunsch nach Zukunft, liegt Hoffnung.»
Macron befürwortet bereits jetzt Kontakte mit Russland in der Frage der Nahrungsmittelsicherheit. Er schliesst Entwicklungen allerdings nicht aus, dass in Zukunft auch in Bezug auf andere Themen direkt zwischen der EU und Russland verhandelt werden müsse.
(Was Wolodimir Selenskyj und der rumänische Präsident Klaus Johannis an der Medienkonferenz sagten, kann ich mangels Sprachkenntnisse nicht wiedergeben.)
Wie sind der Besuch der drei Könige und ihre Aussagen an der Medienkonferenz zu einzuschätzen:
- Die EU-Spitze hält einen ukrainischen Sieg für unmöglich und Verhandlungen für unumgänglich, um einen russischen Diktatfrieden zu verhindern.
- Der Stellvertreterkrieg soll offenbar mit einer Stellvertreterniederlage enden. Obwohl die EU die Ukraine mit Waffen und Geld massiv unterstützt und mit den Sanktionen einen eigenen Wirtschaftskrieg entfesselt hat, schiebt sie die Pflicht, Verhandlungen mit Russland aufzunehmen, der Ukraine zu. Mit der sich abzteichnenden Niederlage will sie nichts zu tun haben.
- Der Riss in der NATO ist unübersehbar. Während die USA der Ukraine die gewünschten Anti-Schiffsraketen liefern – die Bedingung für die Freigabe des blockierten Getreides – befürwortet die EU schon jetzt, das Problem mit Verhandlungen zu lösen.
- Macron deutete zudem an, gegebenenfalls direkt mit Russland Verhandlungen aufzunehmen, falls die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nicht zu einem Ergebnis führen. Die EU wird dann ihre Interessen vertreten und nicht die ihres möglichen künftigen Mitglieds.
Zwei entscheidende Kriegsparteien fehlten in Kiew: Russland und die USA. Während sich die Position der USA zusehends schwächt, scheint diejenige von Russland kontinuierlich zu erstarken.
Es ist wahrscheinlich, dass sich die ursprünglichen Kriegsziele Russlands – Entmilitarisierung, Neutralisierung und Entnazifizierung der Ukraine – seit Beginn der «Operation» (auch Macron verwendete diesen Begriff!) verändert haben. Während es dazu im Februar von Wladimir Putin klare Aussagen gab, können wir sie heute nur vermuten.
Je länger der Krieg dauert, desto mehr verlagern sich die Vorteile nach Russland. Wenn die Energie- und Nahrungsmittelversorgung im Herbst kritisch wird, haben die europäischen Führungen zwei Möglichkeiten: sich mit Russland in der einen oder anderen Form zu einigen oder die Kontrollschrauben beträchtlich anzuziehen, um Unruhen und politische Erdbeben zu verhindern. Dazu könnten neue Varianten von Viren einen geeigneten Vorwand liefern.
Das neue Kriegsziel Russlands dürfte die Auflösung der NATO, d.h. der Allianz zwischen den USA und ihren europäischen Partnern sein. Angesichts der verhängnisvollen strategischen Fehler der USA scheint dies realistisch.
Biden steckt unrettbar in einer Sackgasse. Wenn er für die Wahlen im Herbst das Gesicht wahren will, muss er den nicht zu gewinnenden Krieg fortführen. Wie weit die starke Fraktion der Neocons die Eskalation treiben will, wird sich weisen. Die nukleare Option ist für die Falken jedenfalls nicht vom Tisch.
Putin muss den Europäern aber auch etwas bieten: neben Rohstoffen wird dies vor allem die Möglichkeit sein, das Gesicht zu wahren (und im Amt zu bleiben). Das kann nur gelingen, wenn die Ukraine die Niederlage hinnimmt. Das wird mit dem bestehenden Personal in der Ukraine allerdings nicht wahrscheinlich. Die Durchhalteparolen des Präsidenten haben das Land schon einen hohen Blutzoll gekostet.
Der Vorstoss der EU-Spitze macht Hoffnung. Damit die Hoffnung aber Realität wird, müssen sich andere Spieler bewegen oder zur Bewegung gezwungen werden. Das Schachspiel ist einen wichtigen Zug weiter. Aber entschieden ist es noch längst nicht.
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Kommentare
Putin muss der EU gar nichts bieten
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