Das Neue Dorf – gemeinschaftliches Zusammenleben in der Surselva
In der bündnerischen Surselva konstituiert sich ein Kollektiv, das für ein genossenschaftliches Miteinander und einen bewusst nachhaltigen Lebensstil steht. Initiant Marco Küng ist überzeugt, dass in solchen Gemeinschaften, die eine Alternative zur globalisierten Welt bieten, die Zukunft liegt. Einerseits durch die Rückkehr zur lokalen Produktion, anderseits aber auch durch das Bewusstsein, dass man Sorge zueinander und zur Umwelt tragen muss.
Als Marco Küng zum ersten Mal von Ralf Otterpohls Projekt der «Neuen Dörfer» hörte, machte es gleich Klick. Also ob sich auf einmal ganz verschiedene Ideen und Visionen, die Küng in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt hatten, zusammengefügt hätten: Der Wunsch nach einem Leben, das sich nicht an wirtschaftlichem Profit ausrichtet, sondern an humanen und sozialen Werten. Die Überzeugung, dass das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, in der man einander vertrauen kann, die Idealform des Miteinander ist. Und das Bewusstsein, dass viele Missstände vermieden werden können, wenn man Sorge zueinander und zur Umwelt trägt.
«Ich habe sieben Mal versucht, eine Hofgemeinschaft im Kollektiv zu führen», sagt der 56-jährige Küng. «Leider hat es aus verschiedenen Gründen nie langfristig geklappt. Doch beim Projekt ‹Neues Dorf Surselva› sind die Voraussetzungen anders.» Davon ist Küng nach dem dritten Treffen der Projektgruppe überzeugt. Und er strahlt, wenn er darüber spricht. Denn innert weniger Monate haben mehr als 60 Menschen Interesse bekundet, sich an der Gründung eines «Neuen Dorfes» zu beteiligen. Doch was bedeutet das genau?
Das Konzept stammt vom deutschen Professor Ralf Otterpohl, der sich auf ländliche Entwicklung spezialisiert hat. Angesichts der fortschreitenden Bevölkerungskonzentration in Grossstädten und der Schattenseiten der Globalisierung sollen die «Neuen Dörfer» Alternativen bieten, in denen wieder lokal gewirtschaftet wird. Und zwar nicht nur im Selbstversorgertum: Die Dörfer, die je nach Standort mehrere hundert Einwohner haben könnten, sollen auch die umliegenden Städte beliefern – mit regionalen, nachhaltigen und ökologisch hergestellten Produkten.
In den nächsten Jahrzehnten wird die Art und Weise des sozialen Zusammenlebens zur grossen Herausforderung werden.
Biologischer Landbau, aber auch Handwerk, eine eigene Energieversorgung, Bildungsangebote und vieles mehr soll von den Bewohner/innen der Dörfer betrieben werden. Funktionieren soll das Ganze zwar als Gemeinschaft oder Genossenschaft, doch ohne die Notwendigkeit, dass die einzelnen Betriebe kollektiv verwaltet werden. Denkbar sind zum Beispiel viele kleine Minifarmen, die in einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis zueinander stehen. Unter anderem, indem Commoning und Teilen wichtige Grundlagen darstellen – bis zu dem Punkt, an dem vielleicht sogar das System der regulären Geldwirtschaft nicht mehr gebraucht wird.
In der Schweiz gibt es bereits an fünf Orten Regionalgruppen, die sich mit der Gründung eines Neuen Dorfes auseinandersetzen. Doch erst in der Bündner Surselva ist das Projekt so konkret, dass sogar schon der Erwerb eines entsprechenden Stücks Land in Aussicht steht. Obwohl der Flimser Marco Küng erst im Frühling dieses Jahres ein erstes Brainstorming-Treffen einberufen hat, geht es mit grossen Schritten vorwärts. «Zurzeit sind wir dabei, eine Charta auszuformulieren, in der wir den gemeinsamen Nenner und das gemeinsame Ziel der Projektgruppe und die organisatorischen Grundlagen festlegen. Zum Beispiel, welche juristische Form wir wählen oder welche Prozesse für die Konfliktlösung vorgesehen sind.» Anders als bei seinen früheren Projekten merkt Küng, dass sich die Kerngruppe, die aus knapp zehn Personen besteht, in den wesentlichen Punkten einig ist. Zum Beispiel in Grundsätzen wie «Ich reife an dem, was mir begegnet», «Ich übernehme Verantwortung» oder «Ich engagiere mich für eine nachhaltige Welt». Küngs Vision ist eine andere Art des Zusammenlebens, die vom Engagement für die Gemeinschaft und nicht nur fürs Individuum geprägt ist.
Konkret wird das Neue Dorf Surselva gemeinschaftlich genutzte Gebäude mit Gemeinschaftsraum und -küche, Bistro, einen Laden sowie Wohnräume umfassen. Ausserdem sind Lokalitäten für eine Schule sowie für Werkstätten, Landwirtschafts- und Gärtnereibetriebe angedacht. Finanziert und getragen werden soll das Projekt durch die Mitglieder und private Geldgeber – möglichst ohne Abhängigkeit von Banken.
Für Marco Küng erfüllt sich mit diesem Projekt ein Traum. Doch er war nicht immer in alternativen Kreisen unterwegs. «Ich bin ganz konventionell aufgewachsen und hatte früher keine grossen Ambitionen. Doch durch meine langjährige Tätigkeit in der Landwirtschaft hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass ich nicht nur nachhaltig, sondern auch gemeinschaftlich wirtschaften möchte.» Küng ist überzeugt, dass darin die Zukunft liegt: «In den nächsten Jahrzehnten wird die Art und Weise des sozialen Zusammenlebens zur grossen Herausforderung werden. An immer mehr Orten auf der Welt begreifen die Menschen, dass die Logik der Globalisierung, bei der Güter rund um die Welt transportiert werden, mittelfristig nicht mehr funktioniert. Man kehrt zurück zu lokaler Produktion und zu Gemeinschaften, in denen man zueinander und zur Umwelt schaut.»
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