Die Frau mit dem Plakat

Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

© Nicolas Lindt

Wie an jeder öffentlichen Manifestation wurden auch an der Friedenskundgebung am vergangenen Samstag in Bern Plakate und Transparente aller Art mitgeführt: grosse und kleine, originelle und weniger originelle, lesbare und schwer zu entziffernde, kämpferische und kreative. Und wie immer gab es auch ganz bescheiden gestaltete Äusserungen, mit blossem Filzstift ungelenk auf ein Stück Karton geschrieben und mitgetragen von einer Person, die sich allein durch die Menge schob, so wie die einsame Kundgebungsteilnehmerin, die ich von weitem beobachtet hatte.

Plötzlich stand sie vor mir. Sie war eine einfache, etwas schwerfällig wirkende Frau ohne Glamour und ohne Frisur, ihr Mantel war abgewetzt, und ich hatte sofort den Eindruck von einem Menschen, der es in der Leistungsgesellschaft nicht leicht hat. Doch sie stellte sich ohne Scheu vor mich hin und streckte mir selbstbewusst ihren Zettel aus blossem Papier hin, auf den sie geschrieben hatte:

«Wer kommt mit mir zu Putin? Ich habe keine Angst vor Putin. Stopp Sanktionen.» Ich nickte ihr anerkennend zu, weil ich ihr zeigen wollte, dass ich ihre Plakataktion mutig und lobenswert fand. Sie grinste vor Freude und deutete auf den Satz, den sie auf den Zettel geschrieben hatte: «Der ist von mir!» sagte sie, und ich lobte sie noch einmal. Gleichzeitig hoffte ich, dass sie weitergehen würde. Denn die Frau gehörte zu jener Art Mensch, der man auszuweichen versucht. Wenn ich sie ernst nehme, lässt sie mich nicht mehr gehen, dachte ich, weil niemand sie ernst nimmt. Dann kapert sie mich und will mir ihre Geschichte erzählen.

Glücklicherweise sprach mich in diesem Moment ein Bekannter an, sodass ich mich von ihr abwenden konnte. Ich schenkte ihr, mich entschuldigend, noch ein Lächeln, aber das Lächeln war billig. Es war wie ein Almosen, das ich ihr nachwarf. Die Frau steckte es ein. Sie steckte es ein wie so viele Münzen, die man ihr in die Hand gedrückt hatte, damit man sie los war. Sie wanderte durch die Menge wie vorher und sobald wieder jemand auf sie aufmerksam wurde, zeigte sie ihm den Zettel und strahlte. Sie strahlte, weil ihr der Satz auf dem Zettel eine Bedeutung gab und weil sie stolz auf die Botschaft war, die der Satz enthielt: Wer kommt mit mir zu Putin?  Ich habe keine Angst vor Putin.

Sie ist eine Frau, dachte ich, der man nichts zutraut, sie wirkt verletzt und verletzlich, doch in ihrem Innern ist sie nicht schwach. Sie hat keine Angst vor dem mächtigen russischen Herrscher, sie verteufelt ihn nicht und würde ihn sogar besuchen. Wer kommt mit mir? fragt sie uns ganz direkt. Sie würde vorangehen und sie glaubt, mit Putin könne man reden. Deshalb fordert sie ein Stopp der Sanktionen. Weil die Sanktionen verhindern, dass unser Land zwischen den Kriegsparteien vermitteln kann.

Menschen wie die Frau mit dem Plakat werden belächelt. Ich bin ihr ausgewichen, so wie die meisten ihr ausweichen würden. Aber ich habe Respekt vor ihr.

Kommentare

Angst

von juerg.wyss
Ich bewundere diese Frau, aber die Interpretation von Nicolas ist schon ein wenig wertend. Aber nur aus Sicht von Nicolas, weil ich weiss der Frau ist die Wertung Ihrer Person egal. Warum ich  das weiss, weil ich weiss dass die Frau nicht glaubt, dass man mit Putin reden kann, sie weiss es. Genau wie ich es weiss, wie jeder es wissen kann, der nicht auf das Gerede von Angst eingeht und sich beeinflussen lässt. Nebenbei bemerkt, Respekt ist nicht eine Form der Ehrung, Respekt ist eine Form von Angst!