Der Westen hat bereits verloren
Seit dem Bankrott der Sowjetunion feiert sich der Westen als finaler Sieger im Systemwettbewerb und als glorreicher Gewinner im Kampf des Guten gegen das Böse. Einige Kriege und Krisen später gefällt er sich immer noch in der Pose des Triumphators und Weltdominators. Jetzt stellt sich heraus: Im Widerstand gegen eine multipolare Welt demontiert er sich selbst.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auf diesem wunderbaren Planeten schreckliche Dinge geschehen, so schrecklich, dass sich die Weltgemeinschaft schwor, gemeinsam dafür zu sorgen, dass sich solche Katastrophen nie mehr wiederholen.
In der zweiten Hälfte entwickelten die verfeindeten Nationen USA und UdSSR die tödlichsten Waffenarsenale, welche die Welt je gesehen hat. Sie waren so zerstörerisch, dass beide Seiten davor zurückschreckten, sie gegen ihren Erzfeind einzusetzen. Der Systemwettbewerb zwischen dem Kapitalismus und Kommunismus gefror im «Gleichgewicht des Schreckens».
Dann kamen Glasnost, Perestroika und die Wiedervereinigung Deutschlands. Es herrschte für einen kurzen Moment Tauwetter. Der Kalte Krieg war vorbei. Alle atmeten auf.
Die Weltgemeinschaft hatte im 20. Jahrhundert drei Mal Gelegenheit, vernünftige Schlussfolgerungen aus den bis dato grössten Krisen der Menschheitsgeschichte zu ziehen: 1918, 1945 und 1990.
In der Tat versuchte sie 1920 mit der Gründung des Völkerbunds und 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen, den Pazifismus zu institutionalisieren. Offensichtlich mit bescheidenem Erfolg. 1990 war die dritte Gelegenheit, aus den Ereignissen der jüngsten Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Tatsächlich wurden in den folgenden Jahren diverse neue Abrüstungsverträge geschlossen (START, CFE, CTBT, SORT, NPT, CWC). Man traute sich gegenseitig immer noch nicht über den Weg, gab sich aber Mühe, die Apokalypse zu verhindern.
Temporäre Anzeichen von Lernfähigkeit
Völkerbund, UNO, Abrüstungsverträge: Es hat den Anschein, dass die Weltgemeinschaft immer wieder zur Vernunft kam und einsah, dass Bomben nicht die Lösung sein können und Konflikte besser durch Verhandlungen gelöst werden.
Sie hat auch erkannt, dass eine Welt mit weniger Waffen eine bessere ist als eine mit mehr Waffen. Man möchte ihr zu diesen Erkenntnissen herzlich gratulieren, denn sie scheinen zu belegen, dass Menschen lernfähig sind und über einen intakten Selbsterhaltungstrieb verfügen.
Wie kommt es, dass wir uns heute schon wieder in einer Lage befinden, die sich wie der Dritte Weltkrieg anfühlt?
Party time!
Blenden wir zurück ins Jahr 1990. Natürlich war der Zerfall der UdSSR und des Kommunismus für die USA und die gesamte kapitalistische Wertegemeinschaft erst einmal ein Grund zum Jubeln. 1945 hatte man die Welt vor dem Faschismus gerettet und 45 Jahre später vor dem Kommunismus. Was für eine historische Leistung! Nun war der Weg frei für die Globalisierung des Turbokapitalismus aka Neoliberalismus. Party time!
Party time bedeutete: Steuerentlastung für Reiche, Abbau von Sozialleistungen, Deregulierung, Finanzcasino, billiges Geld, Verschuldung, Auslagerung der industriellen Fertigung in Billiglohnländer, Umweltzerstörung, Freihandelsabkommen, New Economy, Social Media, Kriege im Nahen und Mittleren Osten, rücksichtslose NATO-Expansion.
Money-Making im Westen, Nation-Standing im Osten
Während der Westen den Endsieg des Kapitals über die Arbeit feierte und emsig neue Märkte in sein neoliberales System integrierte, waren Russland und China emsig damit beschäftigt, sich zu einem Global Player aufzurichten.
Dabei waren unterschiedliche Motivationen im Spiel: Dem Westen ging es bei seinen Aktivitäten in erster Linie um Profitmaximierung und Refeudalisierung (der Neoliberalismus entfaltet sich am besten ohne Grenzzäune, schliesslich sollen Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen möglichst frei zirkulieren).
Russland und China ging es um ihr Standing als Nation, ihr Nationalprestige. Es ist wichtig, die unterschiedliche Qualität der Dynamik zu verstehen. Der Westen ist vom Money-Making beseelt, Russland und China vom Nation-Standing. Während die russische Regierung auf militärische Potenz setzte, um die nationale Stärke zu demonstrieren (was angesichts der schieren Grösse des Landes und der Menge seiner Bodenschätze einleuchtend scheint), setzte die chinesische auf die wirtschaftliche Potenz. Beide Nationen haben in kurzer Zeit viel erreicht. Sie wollen als potente Global Player wahrgenommen und respektiert werden. Man kann das verstehen.
Hausgemachte Systemschwäche
Ist die Stärke Russlands und Chinas der Grund, warum wir heute wieder am Abgrund stehen? Nein. Der Grund sind 30 Jahre Party time. Die Exzesse des Neoliberalismus haben den Westen von innen geschwächt.
Die Eliten haben alles dem globalen Wettbewerb, der privaten Profitmaximierung und dem BIP-Wachstum untergeordnet. Die Reichen wurden immer reicher, die arbeitende Bevölkerung profitierte kaum vom BIP-Wachstum.
Der traditionelle Mittelstand – ein Produkt starker Gewerkschaften und der «sozialen Marktwirtschaft» – kam im Zuge der Globalisierung immer mehr unter Druck. Einerseits wurde von den Angestellten mehr Leistung gefordert, andererseits verflüchtigte sich die Solidarität der Unternehmen und des Staates.
Die Frustration in den Mittel- und Unterschichten bildete den Nährboden für Protestparteien, deren Erfolg den traditionellen Parteien zusetzte und die Zusammenarbeit in den Parlamenten und Regierungen erschwerte.
Das Klima in der Politik und in der Gesellschaft wurde immer rauer, gehässiger und hysterischer. Der Neoliberalismus löste im Westen reihenweise Krisen aus, förderte die Spaltung in der Gesellschaft und trug entscheidend zur Destabilisierung der Demokratien bei. Diese Entwicklung ist weder die Schuld der Russen noch der Chinesen. Sie ist die Folge einer kapitalistischen Systemkrise.
Obwohl sich die Zeichen mehrten, dass der Neoliberalismus als Modell für eine prosperierende Weltwirtschaft und den Weltfrieden nicht taugt, war der Westen überzeugt, dass die Globalisierung des Modells alternativlos ist.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den verhassten Russen (Erzfeind!) und den gefürchteten Chinesen (Kommunisten!) diente auch dem Zweck, den westlichen Lebensstil zu globalisieren und die westliche Ideologie per Soft Power durch die Hintertür zu etablieren.
Provokation und Konfrontation statt Selbstkritik
Während die Party time im Westen zur Systemschwäche führte, führten Ehrgeiz und Disziplin im Osten zur Systemstärke. Wie reagierte der Westen darauf? Statt Russland und China den gebührenden Respekt zu zollen und den Neoliberalismus zu domestizieren, suchte er die Konfrontation.
Russland provozierte man mit NATO-Kriegsspielen vor der Haustüre, China mit Belehrungen, Drohungen und schikanösen Handelshemmnissen. Das westliche Verhalten zielte schamlos darauf ab, die Russen und Chinesen an ihrer Entwicklung zu hindern. Mit anderen Worten: Um die unipolare Weltordnung zu retten, ging der Westen dazu über, die unaufhaltsame Entstehung einer multipolaren zu sabotieren.
Man muss das an dieser Stelle deutlich sagen: Das Verhalten des Westens gegenüber Russland und China muss als imperialistisch und aggressiv bezeichnet werden. Schlimmer noch: Es hat die Qualität einer Kriegserklärung.
Scheitern auf allen Ebenen
2023 steht fest, dass der Westen mit seiner Bully-Strategie gescheitert ist, und zwar auf allen Ebenen:
- Geopolitisch: Russland und China sind strategisch eng zusammengerückt. Die bipolare Weltordnung ist Fakt. Die BRICS-Volkswirtschaften haben ein enormes Wachstumspotenzial. Damit wird auch die multipolare Weltordnung in naher Zukunft Fakt sein. Der Westen hat sich mit seinen Sanktionsorgien und seiner Kriegsführung gegen Russland im globalen Süden noch unbeliebter gemacht. Obwohl die grosse Mehrheit der Nationen den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, kennt sie die Vorgeschichte und die geopolitische Intention des Westens.
- Wirtschaftlich: Der westliche Konfrontationskurs gegen Russland, China und neu auch alle Staaten, die mit Russland und China Handel treiben, zerstört Lieferketten, verteuert die Produktion, behindert den Handel, erzeugt Inflation, mutet der eigenen Bevölkerung schmerzhafte Wohlstandsverluste zu, schadet dem globalen Süden, zwingt immer mehr Menschen zur Flucht und verschärft die globalen Krisen.
- Militärisch: Der Kalte Krieg hat uns gelehrt, dass ein Wettrüsten der Supermächte nur zu einem Gleichgewicht des Schreckens führt. Die Expansion der NATO wird daran nichts ändern. Russland und China haben die Ressourcen, um das Wettrüsten durchzustehen. Die Neuauflage des Kalten Krieges ist nur ein gutes Geschäft für die Rüstungsindustrie – auf Kosten der Bevölkerung. Strategisch ist er nutzlos.
- Moralisch: Frage: Wie oft hat die westliche Wertegemeinschaft ihre christlichen und humanistischen Werte schon verraten? Die Geschichte der abendländischen Zivilisation strotzt vor moralischem Totalversagen. Inquisition, Kreuzzüge, Kolonialismus, Imperialismus, Sklaverei, Rassismus, Faschismus, völkerrechtswidrige Kriege – wie passt das alles zu einer christlichen und humanistischen Wertegemeinschaft? In der Gegenwart vergeht fast kein Tag ohne öffentliche Zurschaustellung der westlichen Doppelmoral. Mit welchem Recht zeigt der Westen mit dem Finger auf andere und fordert rechtstreues Verhalten? Nur der Westen selbst glaubt noch an seine Glaubwürdigkeit, dafür sorgt die konzertierte Propaganda. Die übrige Welt durchschaut die Heuchelei und verachtet die «regelbasierte Ordnung» nach dem Vorbild der Mafia. Der «ehrenwerte» Westen ist schlicht nicht in der Position, die Welt in «Gut» und «Böse» zu unterteilen. Es steht ihm nicht zu.
- Kulturell: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Toleranz sind grossartige kulturelle Errungenschaften. Was diese Errungenschaften in der Praxis taugen, zeigt sich im Stresstest. Nach dem (provozierten) Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine einigte sich der Westen blitzschnell auf «Sanktionen aus der Hölle», die Beschlagnahmung von russischem Eigentum, die Isolierung von russischen Sportlern und Künstlern, die flächendeckende Zensurierung russischer Medien, eine durchgehend antirussische Berichterstattung in den Massenmedien, die bedingungslose Unterstützung der Politik der ukrainischen Regierung mit Geld und Waffen, die Aktivierung der NATO und die pogromartige Verleumdung von Personen, die Russland nicht sofort öffentlich verdammten oder es wagten, Kritik am Vorgehen des Westens zu äussern. Hasstiraden gegen Russen wurde sofort salonfähig. Auch niederträchtige Terror- und Mordanschläge gegen russische Infrastrukturen (z.B. Nord Stream) und Zivilisten ernteten Applaus. Selbstverständlich war/ist der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Aber die kollektive Reaktion des Westens inklusive der erklärten Absicht, Russland zu ruinieren, war/ist es auch. Eine Wertegemeinschaft, die elementare Werte über Bord wirft mit der lächerlichen Begründung, Russland habe die gesamte freie Welt angegriffen, ist ein Etikettenschwindel: Wo Demokratie draufsteht, ist Despotie drin.
Egal, wie der Ukraine-Krieg endet – der Westen hat bereits verloren. Er hat es versäumt, die historische Leistung Russlands und Chinas zu würdigen. Er war zu sehr mit der Würdigung seiner eigenen historischen Verdienste und seiner neoliberalen Mission beschäftigt. Mit seinem konfrontativen Kurs gegen Russland und China hat er sich in ein Schlamassel manövriert. Obendrein hat er seinen eigenen Werte verraten.
Die unipolare Weltordnung ist Geschichte. Dem Westen bleiben nur zwei Optionen. Entweder akzeptiert er demütig und bescheiden seinen neuen Platz in der multipolaren Weltordnung. Oder er beharrt in geistiger Verblendung auf seiner globalen Führungsrolle, geht Vollgas in die Eskalation und packt das gesamte Waffensortiment aus. Diesen Waffengang wird allerdings niemand überleben.
Orientierungshilfe für das Überleben der Menschheit
Was haben wir aus den Jahren 1918, 1945 und 1990 gelernt? Offenbar nichts. Dabei wäre die rettende Lektion gar nicht so schwierig:
- Alle Nationen, Religionen, Kulturen und Traditionen sind gleichwertig. Niemand hat das Recht, das Eigene aufzuwerten und das Andere abzuwerten.
- Jede Nation hat Anspruch auf Souveränität und Prosperität.
- Respekt und Vertrauen sind die zentralen Werte der Zivilisation. Ohne sie gibt es kein Miteinander und keinen Forschritt.
- Der einzige völkerverbindende Ismus ist der Pragmatismus, der unermüdlich die Win-win-Situation in der Vielfalt sucht.
- Jede Form von Drohung, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt ist unerwünscht.
Frieden muss das oberste Ziel jeder Regierung sein.
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass 99 Prozent der Weltbevölkerung dieser Orientierungshilfe zustimmen würden. Sogar im Westen.
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