Die Kritik an der «Suizidkapsel» bringt das Thema Sterbehilfe zurück in die Schlagzeilen. Doch allein die Sterbehilfevereinigung «Exit» begleitet Jahr für Jahr über 1’000 Sterbewillige in den Freitod. Und jedes Jahr werden es mehr – obwohl Sterbehilfe für viele von uns noch immer ein Tabu darstellt. Dies ist die Geschichte von Elke, die nach längerer Leidenszeit sterben wollte. Selbstbestimmt. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».

«Wenn Sie das trinken, gibt es kein Zurück mehr.» Bild: N. Lindt

Exit heisst Ausgang. Aber «Exit» als Name einer Sterbehilfevereinigung hat einen seltsam metallenen, unbarmherzigen Beigeschmack. Das tönt nach Ausgestossen und Ausgeschafft werden. Es tönt nach Gottlosigkeit. Alles in mir wehrte sich, mich an das Wort zu gewöhnen. Doch es blieb mir keine andere Wahl. Denn da ich neben dem Schreiben seit vielen Jahren freie Abdankungen gestalte, kam es auch immer häufiger vor, dass ich Worte des Abschieds für Menschen sprach, die mit Sterbehilfe die Welt verliessen. Heute schrecke ich nicht mehr davor zurück. Aber das erste Mal, als ich dafür angefragt wurde, rang ich noch mit mir selbst. Ich wusste nicht, ob ich die Bitte des Menschen, der den begleiteten Freitod wählte, erfüllen konnte. Davon will ich erzählen.

Eine ältere Dame telefoniert mir und fragt mich an, ob ich bereit wäre, ihre Abdankung zu gestalten. Sie sei leidend, schon seit mehreren Jahren, und habe sich deshalb entschlossen, mit Hilfe von «Exit» aus dem Leben zu scheiden.

Ich reagiere betroffen und überrascht, etwas hilflos auch, deshalb sage ich weder Ja noch Nein. Ich möchte einfach Genaueres wissen und erfahre so die Geschichte der Frau. Elke war Anfang 70, alleinstehend, sehr beweglich und noch immer berufstätig, als ihr eines Tages vor einigen Jahren auf einem abschüssigen Weg ein junger Biker entgegenfuhr, nicht mehr ausweichen konnte und mit voller Wucht in sie hineinprallte. 

Mit einem Schädelbruch wurde Elke ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie danach einen Hirnschlag erlitt, sodass man sie vorsichtshalber ins Koma versetzte. Mehrere Wochen lang blieb sie bewusstlos. Als sie aufgeweckt wurde, musste sie schmerzvoll erkennen, dass sie mehrfach behindert war. Die meisten Funktionen des Körpers kehrten durch Therapien zurück, doch es blieben Beschwerden, die ihr Leben fortan begleiten sollten. 

Wovor soll ich denn Angst haben? antwortet Elke. 

Elkes Gleichgewichtssinn war so stark gestört, dass die vorher so wanderfreudige, sportliche Dame eine Gehhilfe brauchte, um sich fortbewegen zu können. Einer der beiden Arme war unempfindlich geworden gegen Kälte und Wärme, sie hörte weniger gut, und auch die Sehkraft verschlechterte sich. Dieselbe Frau, die früher kaum je Medikamente benötigt hatte, musste jetzt jeden Tag eine ganze Handvoll davon zu sich nehmen. 

Der Verzicht auf die vorher so selbstverständliche Mobilität machte Elke zu schaffen. Ihr ganzer Alltag war auf einmal schwierig und mühsam geworden, und so wünschte sie sich schon bald, sterben zu können. Vier Jahre lang trug sie den Wunsch mit sich herum, und im fünften Jahr ihrer Behinderung meldete sie sich bei «Exit» an.

Am dritten Tag im folgenden Monat möchte sie aus dem Leben scheiden – und obwohl sie dann nicht mehr da sein wird, plant sie doch für die Woche danach ihre Abdankung. Sie möchte es ihren Nächsten damit erleichtern, nach ihrem Tod von ihr Abschied zu nehmen. Zur Kirche hat sie keine Beziehung, aber sie kennt eine Pfarrerin in der Gemeinde, die sie für die Abdankung angefragt hat. Die Geistliche – so erzählt es mir Elke – kam zu ihr zu Besuch. Doch das Gespräch verlief völlig anders, als die Sterbewillige dachte. Die Pfarrerin versuchte, ihr den Sterbewunsch auszureden. Der Entscheid über Leben und Tod liege in Gottes Hand.

Für Elke war damit klar: Sie wird ihren Weg ohne Kirche zu Ende gehen. Durch eine Bekannte hat sie von mir gehört. Von mir erhofft sie sich, dass ich ihren Entschluss respektiere und unvoreingenommen bereit bin, nach ihrem selbstgewählten Tod die richtigen Worte zu finden.

Will ich das? Will ich Schützenhilfe leisten zu einem geplanten Selbstmord? Aber ich anerkenne, dass der Leidensdruck von Elke offenbar gross ist, und erkläre mich deshalb bereit, ihren letzten Wunsch zu erfüllen – obwohl ich ihr schon am Telefon wünsche, ihr Lebenswille möge am Ende siegen.

*

Als ich sie in der Alterssiedlung besuche, staune ich. Die ältere Dame, die mich in ihrer kleinen Wohnung empfängt, ist keine vereinsamte und gebrechliche Alte, sondern ein Mensch, der trotz seiner Behinderung nicht den Eindruck auf mich erweckt, als ob er bloss noch sterben wolle. Sie lacht, sie erzählt, und die Schwiegertochter, die ebenfalls zu Besuch bei ihr weilt, wechselt betroffene Blicke mit mir. Beide sind wir schmerzlich berührt von Elkes Entschlossenheit, diese Welt zu verlassen, die ihr trotz allem noch immer viel Schönes und Lebenswertes zu bieten vermag. 

Ihre Kinder sind für sie da, ihre Enkelkinder, ihre Geschwister, ihre ehemaligen Wanderfreunde und ihre Nachbarn: An Besuchen und Abwechslung fehlt es ihr nicht. Sie kann Spaziergänge machen, selbständig einkaufen gehen und ohne fremde Hilfe ein Klassentreffen besuchen. Natürlich gibt es Tage, an denen sie ganz allein ist. Aber sie kann noch lesen und schreiben, ihre Hausarbeit machen und fernsehen. 

Viele ältere Menschen können ihr Leben nicht so frei gestalten wie Elke. Sie wollen trotzdem nicht sterben. Sie tragen ihr Ende nicht in ihre Agenda ein, als wäre es ein Zahnarzttermin. Davor schrecken viele noch immer zurück. Sie finden noch immer, das dürfe man nicht.

Elke jedoch möchte gehen, solange sie noch die Möglichkeit dazu hat. Exit kann ihr nur helfen, wenn sie im Augenblick ihres Freitods noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte steht. Einen zweiten Hirnschlag erleiden zu müssen und danach pflegebedürftig zu sein, wäre für Elke, die so ein aktiver Mensch war, eine schreckliche Vorstellung. Deshalb hat die 77-Jährige ihre Familie und ihre Freunde davon in Kenntnis gesetzt, dass sie am dritten Tag des folgenden Monats um 11 Uhr in ihrer Wohnung sterben wird. Eine Exit-Mitarbeiterin wird ihr den ultimativen Cocktail übergeben, der ihrem Leben ein rasches und offenbar erträgliches Ende setzt.

In den Wochen davor wird sie alles, was zu erledigen ist, noch erledigen. Und am Vorabend – sagte sie mir – lädt sie ihre engsten Angehörigen dazu ein, in ihrem Lieblingslokal eine «Henkersmahlzeit» mit ihr zu feiern. So nennt sie es selbst, ohne Zynismus. Sie ist kein zynischer Mensch. Sie spottet auch nicht über das Leben. Sie hat es – trotz schwieriger Zeiten – in vollen Zügen gelebt, sie hat auch viel von der Welt gesehen. Allein sechsmal war sie in Afrika, weil es ihr dort so gefiel. Doch jetzt hat sie genug. Sie will sich mit ihrem leidenden Körper nicht länger plagen. 

Als ich mich von ihr verabschiede, kann ich ihr nicht Auf Wiedersehen sagen. Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich wünsche ihr lediglich Alles Gute, so wie ich das meistens tue, wenn ich von jemandem Abschied nehme. Aber es ist das erste Mal, dass sich mein Glückwunsch nicht auf das Diesseits bezieht. Als ob es ein Leben danach tatsächlich gäbe. 

Elke selber glaubt nicht daran. Für sie ist nach ihrem Tod «alles fertig». Vielleicht hat sie deshalb so gar keine Zweifel, ob ihr Entscheid wirklich richtig ist. Sie muss sich dafür nicht rechtfertigen nach ihrem Tod, vor keiner höheren Macht. Auch vor ihrem Gewissen nicht. Denn mit ihr wird dann auch ihr Gewissen sterben. Das macht vieles leichter.

Was ich an der Abdankung sagen werde, weiss ich noch nicht. Unschlüssig stehe ich zwischen Respekt und Betroffenheit.

Doch vorerst lebt Elke noch, und ihre Tage sind ausgefüllt wie schon lange nicht mehr. Ihre Geschwister besuchen sie, ihre Freunde, ihre Bekannten. Elke möchte sich mit ihnen ein letztes Mal treffen und sich von ihnen verabschieden. 

Den Besuchern fällt mit Verwunderung auf, was auch ich so empfand: Wie gut es Elke zu gehen scheint. Wie sicher sie ist. Einige fragen sie zaghaft: Hast du gar keine Angst? 

Wovor soll ich denn Angst haben? antwortet Elke. 

Sie will es ja. Sie hat es selber entschieden. Und die Mitarbeiterin von Exit, die sie besuchte, hat ihr versichert, dass sie keine Schmerzen verspüren wird. Die Sterbewillige ist im Reinen mit sich, und ich verstehe, was in ihr vorgeht. Hat ein lebensmüder Mensch einmal beschlossen, aus dem Leben zu scheiden, kann es sein, dass er sich wie erlöst fühlt. Erlöst von der quälenden, drängenden Frage, ob er es wirklich tun will und wann er es tun will. 

Eine seltsame, ruhige Heiterkeit strahlt aus dem Menschen, der sich entschieden hat, diese Welt zu verlassen. Elke ist überzeugt: Am 3. des nächsten Monats um 11 Uhr werde ich von allen Sorgen und Nöten, die mich seit Jahren bedrücken, befreit sein. Und im Unterschied zu einer Person, die sich heimlich umbringen will, muss Elke auch kein Geheimnis aus ihrer Absicht machen. Sie geht den legalen Weg. Sie hat es allen gesagt. Und alle geben sich Mühe, ihre Entscheidung zu respektieren.

Manche ihrer Bekannten bewundern sogar ihren Mut. Das spürt sie, und es bekräftigt sie in ihrem Entschluss. Darf sie nicht sogar stolz auf sich sein, dass sie dem Schicksal die Stirne bietet? Das Leben hat Elke durch ihren Unfall eine Bürde von Schmerz und Behinderung auferlegt. Das Leben hat sie zum Opfer gemacht, doch Elke will nicht als Opfer sterben. Aufrechten Ganges wird sie über die Schwelle treten. 

Am Vorabend ihres Todes versammelt sie ihre Liebsten zur versprochenen Henkersmahlzeit in einem Restaurant mitten im Dorf. Man hat mir nachher erzählt, dass der Abend keineswegs traurig, sondern nahezu fröhlich verlief. Es wurde gegessen, getrunken, erzählt und gelacht, es wurden sogar Sprüche geklopft, und auch Elke schien guter Dinge zu sein. 

Was in ihrem Inneren vorging, zeigte sie nicht. Vielleicht stieg auch in ihr leiser Zweifel hoch, wenn sie sich in der Runde umsah und daran dachte, dass sie all diese lieben Menschen in wenigen Stunden verlassen wollte. In einem stillen Moment fragte auch sie sich vielleicht: Will ich es wirklich tun? 

Es bleibt ihr Geheimnis, ob sie mit sich noch gerungen hat.

Einer der Gäste meinte: Heute in einem Monat treffen wir uns alle wieder in diesem Lokal, abgemacht? – Einige haben sicher gelacht, doch eigentlich war der Spruch nicht zum Lachen. Denn er enthielt die Botschaft: Bitte geh nicht. Bleib bei uns.

Das Lachen an diesem Abend war vielleicht eine Spur zu laut. Aber es musste so laut sein – um den Schmerz zu betäuben. Die Tränen dagegen flossen nur leise. An diesem Abend begaben sich nicht nur die Raucher manchmal nach draussen. Auch andere Gäste mussten den Raum hin und wieder verlassen. Allein, in der Kühle des Abends spürten sie erst, wie traurig und trostlos das alles war. Da draussen wurde ihnen bewusst, was für eine Tragödie im Innern des Raumes stattfand. 

Ich weiss nicht, ob Elke in ihrer letzten Nacht auf der Erde noch Schlaf fand. Am Morgen des neuen Tages ist sie jedenfalls zeitig wach. Sie ordnet die letzten Dinge in ihrer Wohnung und spült noch die Tasse, aus der sie getrunken hat. Warum nahm sie noch einen Kaffee zu sich? Als Stärkung fürs Jenseits, an das sie nicht glaubt? Selbst wenn es für sie einen Himmel gäbe – den Koffeinschub braucht sie dort nicht mehr. 

Dann will sie zur Bank. Eine Unterschrift muss sie noch leisten, eine Rechnung bezahlen. Man tut solche Dinge vor einer Reise, und je näher die Abfahrtszeit rückt, um so hektischer wird man. Auch Elke beeilt sich. Doch um 11 Uhr geht nicht ihr Zug. Um 11 Uhr gibt es Elke nicht mehr.

Ihre Tochter und ihre Enkeltochter begleiten sie auf die Bank. Weiss die Bankangestellte am Schalter, was ihre Kundin, die ältere Dame, noch am gleichen Vormittag tun wird? Ich wünsche ihr, dass sie es nicht weiss. 

Danach, ein letzter Spaziergang zum Hügel hinter dem Haus, bevor sich die engsten Familienmitglieder um 10 Uhr 30 in Elkes Wohnung versammeln. Auch jetzt noch hilft man sich gegenseitig mit lockeren Worten und schwarzem Humor. Doch im Grunde hilft nichts mehr. Dem Selbstbestimmungsrecht des modernen Menschen darf niemand etwas entgegensetzen. Elke darf in den Tod gehen. Der Zeitgeist erlaubt es.

Die Frau von Exit trifft ein. Sie bereitet alles vor, und dann ist es soweit. Alle verabschieden sich von Elke. Während die einen bleiben, um der Sterbewilligen beizustehen, ziehen sich die andern zurück. Sie können und wollen nicht zusehen, was nun geschieht. Und es liegt nicht am fehlenden Mut.

Elkes Sohn hält seiner Mutter die eine Hand, die andere ergreift ihre Enkeltochter, die schon erwachsen ist. Stillschweigend hat man sich darauf geeinigt, die Frage, die allen zuvorderst steht, nicht mehr zu stellen. Doch Elkes Sohn hält sich nicht daran. So sehr er den Sterbewunsch seiner Mutter zu verstehen versucht, so sehr hofft er doch, aus Liebe zu ihr, den tödlichen Countdown stoppen zu können. Er fragt die Mutter ein letztes Mal: Bist du wirklich sicher?

Ja, ich bin sicher, antwortet Elke, ohne Spur von Unsicherheit. Als fühlte sie sich getragen vom Gewicht dieser letzten Minuten. 

Ein Mittel, das den Magen beruhigt, hat sie bereits erhalten. Nun überreicht ihr die Frau von Exit den tödlichen Trank und spricht die Worte, die sie zu sprechen hat: «Wenn Sie das trinken, gibt es kein Zurück mehr.» 

*

Es gab kein Zurück mehr. Am 3. Juni kurz nach 11 Uhr ist Elke gestorben, und in der Woche danach habe ich, ihrem Wunsch entsprechend, ihre Abschiedsfeier gestaltet. Obwohl keine Anzeige in der Zeitung erschien, war die kleine Kapelle voll. Alle wollten noch einmal an Elke denken und um sie trauern. Sie wollten ihre Geschichte erfahren. Doch vor allem wollten sie für sich selber wissen, ob sie Elkes Entscheidung gutheissen konnten.

Und ich selbst? Elkes Leben war trotz allem immer noch lebenswert. Trotzdem wollte sie sterben. Das allein, so wurde mir klar, ist entscheidend. Elkes Entschluss öffnete mir die Augen: Wenn wir sagen, der Mensch soll frei sein, dann darf er frei sein bis in den Tod. Er muss nicht warten, bis er geholt wird. Ob er krank ist oder gesund, er darf diese Welt verlassen. Wann immer er will. 

Aber er muss nicht. Er darf auch bleiben. Aus Liebe zu seinen Nächsten – und zu sich selbst.

Kommentare

danke

von MS
sehr berührend