Fürchte dich nicht – vor der Angst!

Angst ist ein Totschlag-Argument der Spaltung geworden; «Ihr habt doch nur Angst» ein inflationär gebrauchter gegenseitiger Vorwurf – ob es um Impfung, Waffenlieferungen, Demokratieabbau oder Klima geht. Statt uns Angst vorzuwerfen oder vor der Angst zu fliehen, sollten wir uns mit ihr vertraut machen. Die Samstagskolumne.

Nicht jede Angst ist wertvoll, aber manche schon. Wie wollen wir das unterscheiden? Foto: The Chaffins
Nicht jede Angst ist wertvoll, aber manche schon. Wie wollen wir das unterscheiden? Foto: The Chaffins

Wovor hast du Angst? wurde ich mehrfach gefragt, zum Beispiel als ich mich kritisch über Transgender-Massnahmen äusserte. Und die selbst gegebene Antwort war: Du hast Angst vor Menschen, die sich nicht eindeutig mit einem Geschlecht identifizieren. Ehrlich? So billig wird jetzt Kritik psychologisiert?

Ja, ich habe Angst. Ich habe Angst, dass junge Menschen in ihrer Sehnsucht und Suche missgeleitet und zu unumkehrbaren Entscheidungen gedrängt werden, die sie später bereuen. Diese Angst hilft mir, mich klar auszudrücken. 

Oder ich habe in meinem Beruf Angst, dass ich falsch liege oder jemandem schaden könnte mit meinen Artikeln. Diese Angst lässt mich umsichtiger recherchieren und formulieren. 

Ich habe Angst vor neuen Waffenlieferungen in die Ukraine – jetzt sogar Landminen – und dass der Krieg sich noch ausweitet. Diese Angst macht mir Mut, auch in unbequemen Situationen vor Eskalation zu warnen und zu informieren – und nach Friedensinformationen zu suchen. 

Ganz persönlich schaue ich mit Angst aufs Älter-Werden – dement, hilfsbedürftig, einsam – diese Angst hilft mir, dankbar zu sein für das Leben, was immer es bringt. 

Nicht jede Angst ist wertvoll, aber manche schon. Wie wollen wir das unterscheiden?

Angst ist etwas so diffus Allgegenwärtiges, dass wir sie kaum erkennen – sowenig wie der Fisch das Wasser, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat. Krankhafte, unbewusste, gefürchtete und kompensierte Angst ist Bindemittel und Ferment der heutigen Form von Kultur und Gesellschaft. Das wissen wir seit Dieter Duhms Bestseller «Angst im Kapitalismus» aus den 70er Jahren. Angst mache die Menschen regierbar, heisst es dort, denn: «Angst ist blockiertes Leben, verschlossener Organismus, verbauter Kontakt und somit verminderte Erkenntnisfähigkeit.» Ja, Angst sei der Agent, den die Herrschaft in ihren Untertanen eingepflanzt habe. Vor allem die unerkannte, ungenutzte, unbewusste und ungewollte Angst.

Rainer Mausfeld öffnete uns die Augen für die bewusste Angstmanipulation heutiger Politiksysteme: «Ein systematisches Erzeugen von gesellschaftlicher Angst entzieht der Demokratie die Grundlage, weil Angst eine angemessene gesellschaftliche Urteilsbildung blockiert und die Entschluss- und Handlungsbereitschaft lähmt.» 

Spätestens in der Corona-Zeit wurde Angsterzeugung ganz offen als politisches Mittel eingesetzt, um zu testen, wie viele Menschen sich widersprechenden Anordnungen folgen würden – kopflos und gegen ihre ureigensten Interessen. 

Angst ist eine Art Chimäre – wir fliehen vor ihr, ohne sie richtig zu kennen, und reagieren meist schon auf sie, bevor wir sie wirklich fühlen. Unsere Angstabwehrmechanismen sind berechenbar und bewirken oft das Gegenteil. Einige Beispiele? Aus Angst vor Untreue oder Verlassenwerden beginnen wir, unsere Partner zu kontrollieren – und jagen sie damit in die Flucht. Aus Angst vor Ablehnung begehen wir lauter Übersprungshandlungen – wegen derer man uns dann tatsächlich ablehnt. Aus Angst vor Demokratieverlust sprechen wir nicht mehr mit Menschen anderer Meinung. Aus Angst vor Gewalt werden wir gewalttätig. Aus Angst vor Krieg produzieren wir immer mehr Waffen… usw. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. So entsteht ein sich selbst verstärkendes System unbewusster Angst und Angstabwehr.

Hinter allen Ängsten stehe letztlich die Urangst vor Urtrennung, schreibt der oben genannte Autor Dieter Duhm: die Trennung vom Ganzen, von der grossen Einheit, zu der wir einst gehörten. Diese Verlorenheit, dieses Mutterseelen-Allein- und Ausgesetzt-Sein – das ist der innere Abgrund, den wir fürchten, der Feind, den wir bekämpfen mit jedem Kraftakt, jeder Vergeltungsmassnahme, jedem Geltungsdrang. Die menschlichen Untergründe aller Kriege, jeder Unterwerfung, jeder Herrschaft können so erklärt werden. 

Wir können von einer angstfreien Gesellschaft träumen. Wir können ihre Bedingungen erforschen – und sollten auf eine solche hinarbeiten. Wir können uns erinnern, dass es solche Gesellschaften vielleicht schon einmal gab auf der Erde – Menschen, die in Verbundenheit und Vertrauen lebten statt in Trennung und Angst.

Das ist schön. Aber es nutzt uns nichts, jedenfalls nicht sofortDie Angst wird zunächst bleiben, wie der sprichwörtliche Dreck unter den Fusssohlen, den wir nicht loswerden. Aber... im Moment möchte ich das auch nicht. Mein Vorschlag ist, uns die Angst zur Vertrauten zu machen – damit wir uns nicht mehr an ihrem Wickel packen und in allzu berechenbare Reflexe zerren lassen. 

Wie können wir das?

Mit etwa acht Jahren war ich mit meiner Familie in den Ferien in einer Privatunterkunft nahe der Wasserfälle von Krimml in Österreich. Ich erinnere mich, wie ich nachts aus unserem Zimmer schlich und allein das ganze fremde Haus erkundete, vom Dachstock bis in den Keller. Ohne Licht zu machen, schlich ich allein in alle Etagen, öffnete jede knirschende Tür. Was wäre, wenn mich Geister oder die Gastgeberfamilie dort erwischt hätten? Ich bebte vor Angst und Kälte, aber ich ging weiter – Schritt für Schritt. Das war ich meinem mutigen Indianer- und Piratenselbstbild schuldig.

So wie ich damals das Haus erkundete, so stelle ich mir vor, unser eigenes inneres Haus kennenzulernen – und unsere Ängste. Vorsicht, da gibt es Türen, die sehr schwergängig sind, weil wir uns zeitlebens gegen sie gestemmt haben. Mir hilft dabei die Frage, was ist das Schlimmste, was jetzt passieren könnte – und wie würde ich damit umgehen?

Wenn ich mich in meinem Haus auskenne, das heisst, wenn ich keine Angst mehr vor meiner Angst habe, dann kann niemand auf meiner Angstklaviatur spielen und mich gegen meinen Willen zu Handlungen verleiten oder davon abhalten. Dann kann ich unterscheiden zwischen einer Angst, die mich warnt und handeln lässt – und einer allgemeinen, lebensblockierenden, lähmenden Phobie. 

Ja, Angst macht AngstAber Angst kann auch helfen, eine Entscheidung zu treffen, die man schon lange hätte treffen müssen. Eine Freundin von mir konnte sich erst dann aus ihrer toxischen Beziehung lösen, als ihr Partner sie so würgte, dass sie Todesangst bekam. Vielleicht müssen wir einmal die Angst vor Krieg ganz an uns heranlassen – um Kriege wirklich zu beenden.