Politischer Ansporn für die Degrowth-Bewegung

Zum Buch «Ausgewachsen!» von Werner Rätz, Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.)

Wachstumskritische Bewegungen, die unter Namen wie Décroissance, Degrowth, Wachstumsrücknahme oder Postwachstum operieren, haben gemeinsame Stärken: Sie haben alle erkannt, dass das Ende des unbegrenzten Wirtschaftswachstums auf unserem endlichen Planeten unweigerlich kommt. Sie wissen alle, dass die entscheidende Frage ist, ob dieses Ende des Wachstums als Katastrophe hereinbricht oder bewusst gestaltet wird. Und sie haben sich alle für den Weg der bewussten Gestaltung entschieden. Sie haben aber auch eine gemeinsame Schwäche: Unter dem Eindruck der ökologischen Dringlichkeit widmen sie sich oft vor allem dem einfachen Leben in persönlicher oder kollektiver Selbstbegrenzung und entwickeln dabei gleichzeitig ein politisches Defizit: Sie haben Mühe, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft politisch zu gestalten sei, wenn er nicht als Bürgerkrieg oder als Ökodiktatur über uns herfallen soll.

Der Sammelband «Ausgewachsen!» liefert zu dieser Frage einige wertvolle Diskussionsbeiträge. Er stellt dem neoliberalen Slogan von Margaret Thatcher, es gebe keine Alternative zum Wirtschaftsliberalismus - TINA, there is no alternative - ein neues TINA entgegen: Es gibt keine Alternative zum Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum. Der Titel des Buchs ist eine Kampfansage an all jene, die unsere Zukunft immer noch im Wachstum sehen. Die Kampfansage lautet: «Eure Zeit ist abgelaufen. Die Zukunft gehört der geordneten Wachstumsrücknahme.» Das Buch wird von attac Deutschland verantwortet und vereinigt Beiträge von ungefähr zwanzig Autorinnen und Autoren aus mehreren Ländern. Die sechzehn Artikel vertreten unterschiedliche wachstumskritische Positionen; aber ihre Autorinnen und Autoren sind sich in einem Punkt einig: Sie glauben alle, dass die wachstumshörigen Kräfte in unserer Gesellschaft nicht einfach abdanken werden, dass eine solidarische Postwachstumsökonomie sich also nicht von selbst ergeben wird, sondern dass sie erkämpft werden muss.

Umstritten, aber auch spannend ist dabei die Frage, ob Wachstumsrücknahme innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft denkbar und durchführbar ist oder ob Postwachstum über den Kapitalismus hinausweist. In Bezug auf diese Frage gehen die Meinungen der Autorinnen und Autoren auseinander. Dennoch sind die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Lösungsansätzen größer als die Verschiedenheiten. Die Herausgeber hatten zwar nicht die Absicht, so etwas wie ein politisches Programm zur Vorbereitung einer gerechten Postwachstumsgesellschaft vorzustellen. Aber angesichts der Dringlichkeit der ökologischen und sozialen Probleme könnten viele Vorschläge kurz- oder mittelfristig umgesetzt werden, lange bevor ein Konsens in Bezug auf ein ganzheitliches politisches Konzept gefunden ist. Die Realisierung dieser Vorschläge würde ein solches Konzept nicht verhindern, sondern im Gegenteil seine Schaffung eher erleichtern. Das ist einer der Vorzüge dieses Buchs. Es bietet zahlreiche Anregungen für die praktische Politik in Gegenwart und naher Zukunft. Statt einer Zusammenfassung der einzelnen Kapitel folgen hier einige Beispiele für solche Anregungen.

- Es gibt Technologien, die unter keinerlei gesellschaftlichen Bedingungen konstruktiv wirken können, die immer vor allem gefährlich sind, die nicht den allgemeinen Wohlstand mehren, sondern primär die Gewinne der großen Konzerne: Atomtechnologie, Gentechnik in der Landwirtschaft, Rüstungsproduktion. Wenn man sofort beim Abbau in diesen Bereichen ansetzt, gewinnt man Zeit für die Debatte über ein ganzheitliches Konzept. (97)

- Gerechtigkeit macht oftmals erst ökologisch sinnvolles Verhalten möglich. Die Ärmsten müssen es sich leisten können, sich ressourcenschonend zu verhalten. Deshalb stellt die Einführung eines globalen Mindesteinkommens gegen den Hunger (basic food income) einen ersten Schritt zu globaler Gerechtigkeit dar, lange bevor die Frage geklärt ist, ob und wie ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden soll. (107)

- Alles, was in Richtung auf eine bedarfsorientierte Ökonomie geht, ist zu fördern. Alles, was lediglich finanzielle Anlage- und Verwertungsmöglichkeiten schafft, ist abzulehnen. Dieser Grundsatz schafft zahlreiche tagespolitische Anknüpfungspunkte (Kampf gegen Destruktivtechnologien, Einschränkung sinnloser Gütertransporte, Krankenversicherung, Altersvorsorge). Man kann diesen Grundsatz beachten, ohne die Schaffung eines politisch-gesellschaftlichen Gesamtkonzepts abzuwarten. (107)

- Radikale Verkürzungen der Erwerbsarbeitszeit bedeuten eine Erhöhung des Zeitanteils für Tätigkeiten außerhalb des Erwerbslebens. Dies macht eine neue Arbeitsteilung, insbesondere zwischen den Geschlechtern, möglich und bedingt sie zugleich. Sinkende Erwerbsarbeitszeit setzt einen sich allmählich erweiternden nicht monetären Sektor, also eine Schrumpfung des BIP in Gang. Der Begriff des Zeitwohlstands gewinnt an Bedeutung gegenüber dem Begriff des nur monetär gemessenen materiellen Wohlstands. (119/121ff./133)

- Der entscheidende Motor der Wachstumswirtschaft liegt im Zwang, aus Geld mehr Geld zu machen. Deshalb muss man eine «Demonetisierung» unseres Wirtschaftens anstreben. Man kann zunehmend Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Verkäuflichkeit und Käuflichkeit entziehen, zum Beispiel indem man auf Produktionsweisen umstellt, die auf Gemeingütern basieren. (28/152ff.)

Den Abschluss des Buchs bildet ein Text des ehemaligen Energieministers von Ecuador, Alberto Acosta, über «Buen vivir». Er enthält für europäische Leserinnen und Leser eine Lektion von kaum zu überbietender Radikalität: Die sogenannt entwickelten Länder sind für die Welt auf dem Wege zu einer Postwachstumsgesellschaft kein Vorbild. Diese Länder haben im Gegenteil viel zu lernen von Völkern, für welche die in Europa entstandenen Begriffe Entwicklung und Fortschritt unverständlich geblieben sind. Wenn die Menschheit es schafft, sich als einen Teil der Natur zu sehen und die Natur aus ihrer Rolle als handelbare Ware zu befreien, ist sie dem Ziel einer gerechten Postwachstumsgesellschaft einen großen Schritt näher gekommen. Sie bewegt sich dann auf einen Zustand hin, den Frigga Haug in einem anderen Beitrag mit folgendem Satz charakterisiert: «Von hier aus hört sich die Frage nach dem wirtschaftlichen Wachstum an sich und um seiner selbst willen wie eine unverständliche Inschrift aus vergangener Zeit an.» (129)
                
 

Werner Rätz, Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.)
Ausgewachsen!
Verlag VSA, Hamburg 2011192 Seiten / € 15.80, SFR 24.50ISBN 978-3-89965-430-1
30. Juli 2011
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