Räume für echte Begegnung aufbauen
Was können wir für den Frieden tun? Zum Beispiel uns für Vertrauen und Gelegenheiten echter Begegnung einsetzen. Ein Ort dafür entsteht gerade an der Ostsee. Interview mit Zeitpunkt-Redakteurin Christa Dregger.
In diesem Frühjahr traf sich eine Gruppe von Journalisten und Künstlerinnen in Gut Nisdorf, einem Biohotel am Ostsee-Bodden. Es wurde gemeinsam gearbeitet, nachgedacht, diskutiert, meditiert, gekocht und gelacht. Aus dem Treffen hervorgegangen ist eine neue Nutzung des Netzwerkes terra-nova.earth. Dabei geht es nicht nur darum, sich über den Frieden zu verständigen und im Dialog zu sein, auch und gerade wenn man verschiedener Meinung ist und verschiedene Standpunkte vertritt. Es geht darum, es auch zu leben.
Es ist einfach, von Gemeinschaft zu schwärmen, von Offenheit und Toleranz und den wunderbaren Projekten, die Menschen gemeinsam auf die Beine stellen können. Sie zu realisieren steht im nächsten Kapitel der Geschichten, die wir zusammen zu schreiben versuchen. Wie schaffen wir es, nicht übereinander zu reden, sondern miteinander? Wie gelingt es, Grüppchenbildung innerhalb der Gruppe zu vermeiden, Konflikte anzusprechen und wirklich das auszusprechen, was uns am Herzen liegt? Wie reagieren wir auf Trigger? Wie sieht es aus mit dem gemeinsamen Kochen, Abräumen und Spülen?
Nur aus echten und ehrlichen Begegnungen heraus kann etwas Dauerhaftes entstehen. Hierin hat eine der Gastgeberinnen eine langjährige Erfahrung: Christa Dregger ist Journalistin für Friedensnachrichten und begleitet Gruppen bei Konfliktlösung und Gemeinschaftsbildung. 18 Jahre lang hat sie in der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Portugal gelebt. Sie kennt sich aus mit dem, was Gruppen zusammen- und auseinanderbringt.
Wo Menschen zusammenkommen, gibt es Reibung.
Kerstin Chavent: Was hat dich dazu bewegt, dein Leben in Gemeinschaften zu verbringen?
Christa Dregger: Ich wusste schon als Kind, dass ich kein bürgerliches Leben mit Kleinfamilie und Karriere führen wollte. Mit 18 hörte ich von Landkommunen und besuchte dann viele Gemeinschaften auf dem Land und in Städten, da wollte ich hin, sah mich aber auch in der Osho-Bewegung und anderen Gruppen um.
Zunächst dachte ich vor allem an Selbstversorgung auf dem Land. Dann merkte ich, dass das viel weiter ging. Leben in Gemeinschaft bedeutet Friedensarbeit auch im Inneren — die gemeinsame Überwindung unserer Muster und Masken und der Aufbau von Vertrauen. Was immer ich sonst gemacht habe, das Thema Gemeinschaft hat sich durch alles durchgezogen. Ich habe für das Global Ecovillage Network (GEN) gearbeitet und Ökodörfer und Gemeinschaften auch im globalen Süden besucht und unterstützt. Und ich lebe seit 40 Jahren in Gemeinschaftszusammenhängen, davon 18 in Tamera/Portugal.
Wo Menschen zusammenkommen, gibt es Reibung. Aus einem Reibungsfunken heraus entsteht neues Leben. Wie kann es deiner Erfahrung nach gelingen, die Funken nicht zu einer Explosion werden zu lassen, die alles wieder zerstört? Wie hast du gelernt, mit Triggern und Konflikten umzugehen?
Dieses Lernen geht noch weiter. Drei Dinge sind mir dabei wichtig: Erstens sollte man nicht versuchen, Konflikte ängstlich zu vermeiden, das bringt nichts. Sondern sie ansprechen, kreativ angehen, sichtbar machen, sie in Richtung Lösung bewegen. Dazu zweitens: den Sachkonflikt und die darunterliegende Emotion möglichst getrennt bearbeiten. Viel Reibungsverlust entsteht durch die Vermischung.
Warum bin ich eigentlich so sauer, wenn jemand anderes eine andere Meinung hat? Was verletzt mich daran so? Sehr oft ragen da Erinnerungen hinein, die aus anderen Situationen stammen, oder vielleicht Eifersucht oder anderes.
Die zugrundeliegenden Emotionen kann man liebevoll und ehrlich gemeinsam anschauen, möglichst kreativ, mitfühlend, gelegentlich auch mit Humor — und dann loslassen. Dann hat man einen klareren Boden für den Sachkonflikt. Wir lernen drittens immer mehr, dass gegensätzliche Meinungen stehen bleiben dürfen. Es bereichert uns, nicht in allem denselben Geschmack, dieselbe Meinung zu haben.
Wenn wir uns aber entscheiden müssen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: den Kompromiss, wo alle ein paar Abstriche machen. Oder die kreative Lösung — etwas, das für alle noch besser ist als das, was beide Seiten ursprünglich wollten — die klassische Win-Win-Situation, die höhere Ebene. Dann ist der Konflikt zu einem Geschenk geworden. Wir brauchen dazu Zeit, Offenheit und Kreativität, und auch die Präsenz von erfahrenen, nicht betroffenen Menschen, um diese höhere Ebene zu finden.
Das Zauberwort dabei heißt Vertrauen.
Jede Gemeinschaft — wie jedes Lebewesen — hat ihre Grenzen. Wie kann das sensible Gleichgewicht zwischen Öffnung und Schutz funktionieren, zwischen Begegnung und Rückzug, zwischen Nähe und Abstand?
Schöne Frage, daran forschen wir täglich. Ich habe auch schon in Gemeinschaften gelebt, wo diese Grenzen bewusst überschritten wurden. Zunächst mit bester Absicht, wir wollten uns herausfordern, aus den Komfortzonen auszusteigen und uns wirklich zu verändern und zu heilen — und dachten, ein gewisser Druck würde dabei helfen. Doch letztlich hat das zu Überforderung, Anpassung und Manipulation geführt. Es ist mir und uns heute sehr wichtig, dass wir auf die innere Stimme aller Menschen in einer Gruppe hören — ein Nein ist ein Nein.
Das Zauberwort dabei heißt Vertrauen: Wenn es uns gelingt, Vertrauensräume herzustellen, dann geschieht von selbst immer mehr Öffnung, wir geben immer mehr Grenzen auf, die wir nicht mehr brauchen — und nehmen die klarer wahr, die für uns wichtig sind.
Wie entsteht Vertrauen? Indem wir selbst vertrauenswürdig werden, indem wir zuverlässig füreinander werden, und vor allem, indem wir uns gegenseitig unsere tiefere Wahrheit zeigen. Wenn wir voneinander sehen, wer wir wirklich sind, ist Vertrauen viel leichter. Auch Wissen gehört dazu, vor allem das Wissen, dass wir nicht allein sind mit unseren Ängsten, Vorbehalten, unserer Scham, aber auch nicht mit unserer Größe und unserem Mut.
Du hast ein Buch geschrieben mit dem Titel «Frau sein allein genügt nicht. Mein Weg als Aktivistin für Frieden und Liebe». Welche Erfahrungen sind es, die dir besonders geholfen haben, Frieden und Liebe in deinem Leben zu finden?
Die findet man nicht ein für alle Mal, die muss man immer wieder neu finden, leben, manchmal auch erstreiten. Mir hat es sehr viel Frieden gebracht, dass ich anderen helfen konnte, dass ich Menschen schützen, ihnen Orientierung geben und Vertrauen schaffen konnte.
Beides — Liebe und Frieden — ist auch eine Zeitfrage. In unserer beschäftigten Welt toben wir nur an der stürmischen Oberfläche herum und vergessen, dass weit darunter der tiefe Meeresboden liegt — der ist immer da und immer in Frieden. Das ist ein Bild, das mir immer wieder kommt. Ich brauche in meinem Leben Zeiten des Innehaltens, um mir dieser Tiefe immer wieder bewusst zu werden — damit ich meine Liebe dann im Trubel des Alltags wieder verströmen und leben kann.
Anfang des Jahres hast du mit Freunden das Bio-Hotel Gut Nisdorf erworben. Warum ein Hotel? Wie kann von hier aus Gemeinschaft erlebt und gefördert werden? Was sind eure Projekte?
Das Hotel war gar nicht der Plan am Anfang. Wir — zuerst fünf, jetzt sechs Menschen, die sich zum Teil schon seit Jahrzehnten kennen — haben einen Ort zum Leben gesucht, wo wir aber auch Freunde und Gäste einladen können, um Begegnungsräume, politische Salons, Seminare zu machen. Die Gemeinschaft soll langsam wachsen, bis wir vielleicht 15 oder 20 sind, mit Kindern.
Wir haben viele Häuser angeschaut. Das alte Rittergut in Nisdorf hat uns gleich bezaubert — aber auch finanziell gefordert. Es schien unmöglich. Aber dann haben uns viele Freunde mit Darlehen geholfen, es zu erwerben. Es wurde schon als familienfreundliches Biohotel geführt, das wollen wir zunächst weitermachen. Natürlich auch weil wir hoffen, dass wir damit das Geld verdienen, um unsere Kredite zurückzuzahlen. Aber auch weil wir denken, dass mancher der ganz normalen Urlauber, die hierherkommen, realisiert, dass hier ein anderes Miteinander ist, eine andere Lebensperspektive fühlbar wird — und neugierig wird. Wir sind gespannt auf unsere Gäste.
Nichts rechtfertigt Krieg. Krieg bringt immer neuen Krieg hervor.
In der heutigen Welt wird Friedensarbeit oft verhöhnt oder als gefährlich angesehen. Wie gehst du damit um? Was können diejenigen tun, die für ihr Friedensengagement angefeindet oder sogar mit dem Tod bedroht werden?
Als Erstes einmal den Mechanismus verstehen: Angst ist meistens der Trigger, der gesetzt wird, um Menschen in den Krieg zu treiben und vom Weg des Friedens abzubringen. Frieden ist Öffnung, und Öffnung entsteht in Vertrauen und Angstfreiheit. Friedensbildung ist immer Gemeinschaftsbildung, und dafür braucht es die Öffnung füreinander.
Wenn jemand oder eine Gesellschaft konstant bedroht wird, dann werden diese Menschen irgendwann mit Verschluss, Schutz und Gegenaggression reagieren und sich zum Teil des Krieges machen lassen. Es sei denn, sie haben in sich eine Resilienz erzeugt, auf Drohung nicht mit Angst, sondern mit Wissen und Weisheit zu reagieren.
Ich meine natürlich nicht die gesunde Angst, die man natürlicherweise in einer gefährlichen Situation hat — sondern die chronische, kulturell bedingte Angst, die durch die Enge unseres Aufwachsens und Geschichte bedingt ist und sich so leicht triggern lässt. Diesen Mechanismus zu durchschauen, hilft schon einmal sehr. Sich keine Angst einjagen zu lassen ist auch eine Sache der Übung. Dazu gehört es, Perspektiven des Friedens finden, sie mit anderen zu teilen, die Kriegsgesellschaft in allen Bereichen — auch in Gruppen, Schulen, am Arbeitsplatz, in Familien, Beziehungen und in uns selbst — zu durchschauen und unseren Willen zu Frieden, Versöhnung und Begegnung gegenüberzustellen.
Was ist Krieg? Krieg ist organisierte, materielle, ökonomische, psychische Gewalt. Nichts rechtfertigt Krieg. Krieg bringt immer neuen Krieg hervor. Das hätte die Lehre aus dem 20. Jahrhundert sein sollen.
Du hast einmal gesagt: «Es wird auf der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist.» Wie lebst du den Frieden in der Liebe?
Nach fast 40 Jahren freier Liebe habe ich vor zwei Jahren geheiratet. Damit habe ich mich selbst überrascht. Es war mir immer sehr wichtig, eine freie Frau zu sein — meine Sexualität frei auszudrücken galt mir als Menschenrecht. Das sehe ich immer noch so. Aber jetzt kam der Wunsch nach einer Intimität dazu, die ich vorher so noch nicht gekannt hatte. Mein Mann und ich haben uns versprochen, uns immer die Wahrheit zu sagen, und das gelingt uns ziemlich gut.
Ich bin zu erfahren, um nicht zu wissen, dass jeder Mensch auch in der glücklichsten Beziehung nicht ab und zu auch erotische Lust auf einen anderen Menschen hat. Diese Seite darf bei uns auch leben — die Regel ist, dass wir einander nie ausschließen oder umgehen bei unseren Erfahrungen. Das könnte ich mir auf Dauer allein zu zweit nicht vorstellen — deshalb sehe ich unsere kleine Gruppe auch als Liebesforschungsgruppe, in der wir alles ansprechen und auch die Paare eingebettet sind mit ihren Themen.
Aus der Kooperation der Journalistengruppe ging unter anderem die Kooperation zum Weltwassertag hervor, z.B. hier:
Von Wasser lernen – eine Medien-Kooperation zum Weltwassertag
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