Recht auf Leben – ein Auslaufmodell?

Politiker, Wirtschaftsfachleute und Schuldnerberater haben nur verschiedene Wege aufgezeigt, um Schulden zurückzuzahlen; es käme aber darauf an, die Rückzahlung zu verweigern. (Roland Rottenfußer)

Bei Privatschulden gilt generell, dass das Recht auf ein Existenzminimum Vorrang hat vor dem Recht eines Gläubigers auf Schuldentilgung. D.h. Wenn ich verschuldet bin, kann mir der Gläubiger meine Yacht pfänden lassen, nicht aber den Tisch, an dem ich esse und die Butter, die ich mir aufs Brot schmiere.



Wie ist das mit kollektiver Schuld, also der Staatschuld, für die jeder Steuerzahler mithaftet? Die Initiative „Jubilé 2000“, die sich für Schuldenerlass für arme Länder einsetzt, hat berechnet, dass im Jahr 2004 alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren wegen der Verschuldung stirbt. Wegen des Schuldendienstes sind die Regierungen gezwungen, lebensnotwendige Sozialaufwendungen für die Not leidende Bevölkerung zu streichen. Der Schweizer UN-Beauftragte Jean Ziegler sagt deshalb zu Recht: „Wer an Hunger stirbt, stirbt als Opfer eines Mordes. Und der Mörder trägt einen Namen, er heißt: Verschuldung.“ Das Recht des Gläubigers auf Rückzahlung hat also zumindest in den ärmsten Ländern einen höheren Stellenwert als das Recht des Individuums auf ein Existenzminimum. Mehr noch: es steht über dem Recht auf Leben.



Wie ist es nun in den reicheren Industrieländern? Hier besteht die Tendenz, das „Existenzminimum“ – etwa bei Empfängern von Sozialleistungen – unter dem Druck leerer Kassen immer niedriger zu definieren. Gleichzeitig bleibt das Recht der Superreichen auf ein Existenzmaximum völlig unhinterfragt. Unvergessen auch der Vorstoß des jungen CDU-Abgeordneten Philipp Mißfelder, über 85-jährigen Krankenkassenleistungen wie künstliche Hüften und Zahnprothesen zu streichen. Menschenwürde und optimale Gesundheitsversorgung gelten also nicht mehr als unveräußerliche Rechte, sondern stehen zunehmend unter Finanzierungsvorbehalt. Die mittelfristige Konsequenz aus diesem Trend wäre eine de facto-Euthanasie durch unterlassene Hilfeleistung für volkswirtschaftlich nicht mehr Verwertbare.



Um nun auf meine Eingangsfrage nach der sozialen Zumutbarkeit des Schuldendienstes zurückzukommen: Ich schlage vor, dass folgende Grundsätze international als verbindlich gelten:



a) Das Recht jedes Menschen auf Leben und sein Existenzminimum dürfen durch die Staatsschuld und die daraus resultierenden Tilgungs- und Zinszahlungen in keinem Fall angetastet werden.



b) Ein „Existenzminimum für Staaten“ ist zu definieren, das auflistet, welche Staatsaufgaben als elementar und unverzichtbar gelten sollen. (Dazu gehört eine soziale Grundsicherung für alle Bürger.) Dieses Existenzminimum hat absolute Priorität vor Zinszahlungen.



Welche Gegenmaßnahmen wären darüber hinaus denkbar?



1. Freiwilliger Verzicht von Vermögenden



Solche Fälle gibt es tatsächlich. Andrew Carnegie, Namensgeber der berühmten Carnegie-Hall, gab um 1900 zu Protokoll: „Wer als Reicher stirbt, hat Schande über sein Leben gebracht“ und vermachte den größten Teil seines Vermögens wohltätigen Stiftungen. Im Juni 2006 gab der zweitreichste Mann des Planeten, Warren Buffet bekannt, dass er rund 37 von seinen 43 Milliarden Dollar für gemeinnützige Zwecke verschenken wolle, überwiegend an die Stiftung des reichsten Mannes des Planeten, Bill Gates. Milliardären, die vielleicht diese Seite lesen, sei das zur Nachahmung empfohlen.



2. Bitten und moralischer Druck auf Vermögende



Es hat wenig Sinn, Bitten und Proteste noch länger hauptsächlich an Politiker zu richten, denn diese sind „an der Regierung, nicht an der Macht“ (Lula da Silva, Präsident Brasiliens). Wir sollten durch Artikel, Brief- und Mailaktionen sowie Demonstrationen vor Besitztümern von Superreichen moralischer Druck auf diese ausüben, im Sinne Warren Buffets ihr Geld in Gemeinschaftseigentum zurückzuführen.



3. Ausgleich ungerechter Umverteilung durch Steuern



Dies ist im Wesentlichen die Forderung der europäischen Linken, der Gewerkschaften und von Nichtregierungsorganisationen wie attac. Ob Vermögens-, Erbschafts- oder Steuer auf kurzfristige Spekulationsgewinne („Tobin-Steuer“), immer geht es darum, die Umverteilung von unten nach oben teilweise rückgängig zu machen oder ihre sozialen Folgen abzumildern. Allerdings: Eine Kleptokratie, die die Diebesbeute an die Bestohlenen zurückgibt, gleichzeitig aber systembedingte Anreize für immer neue Diebstahldelikte gibt, ist in sich widersprüchlich und im Grunde pervers.



4. Insolvenzverfahren für Staaten



In Deutschland gibt es seit 1999 für Schuldner die Möglichkeit, ein Privatinsolvenzverfahren anzustreben. Nach einer Phase des „Wohlverhaltens“, in der der Schuldner 6 Jahre lang regelmäßig zahlen muss, was er kann, wird ihm „Restschuldbefreiung“ gewährt. Ja, das gibt’s. Was aber im Kleinen längst möglich ist, ist jedoch im Großen nach wie vor ein Tabu. Die Bevölkerung eines hoch verschuldeten Staates muss ohne Aussicht auf Restschuldbefreiung in alle Ewigkeit blechen. Das Insolvenzverfahren für Staaten gehört endlich auf die politische Tagesordnung!



5. „Revision“ – Überprüfung von Gläubigerforderungen



In Brasilien unter Präsident Lula wurde eine solche Revision oft gefordert, aber meines Wissens bis heute nicht durchgeführt. „Das Parlament des Schuldnerlandes beansprucht das Recht, die Herkunft seiner Schuld und ihre Zusammensetzung zu untersuchen und schließlich festzustellen, welche Kredite (…) das Ergebnis von überhöhten Rechnungen, von betrügerischen Transaktionen, von Urkundenfälschungen, kurz, von Betrug, sind.“ (Zitiert aus „Das Imperium der Schande“ von Jean Ziegler) Eine solche Revision wäre das Mindeste, was alle Staaten für ihre in Schuldknechtschaft gefallene Bevölkerung tun sollte.



6. Veränderung der Rechtsgrundlage



Dies wäre der Versuch, Enteignungen von ins Monströse angewachsenen Privatvermögen zu legalisieren. Es wäre die Umkehr des im Moment vorherrschenden Privatisierungstrends. Eigentlich wäre es aber nichts anderes als Rückführung veruntreuten Gemeinschaftseigentums, die Korrektur der gegenwärtigen Politik der Enteignung der Arbeitnehmer und sozial Schwachen.



7. Schuldnerkartell mit dem Ziel der Nicht-Rückzahlung



„Man muss eine Front der Schuldnerländer schaffen, um sich den Gläubigerländer entgegenzustellen“, verlangte Brasiliens Präsident Lula da Silva. Die Überlegung dahinter ist einfach. Ein einziges Land kann sich dem mächtigen, global operierenden Finanzkapital nicht entgegenstellen. Es würde durch Wirtschaftssanktionen platt gemacht. Eine Allianz armer Schuldnerländer könnte dagegen ein mächtiges Gegengewicht zu den globalen Feudalherren schaffen. Was wäre dann aber mit uns, den ebenfalls vom Schuldendienst betroffenen Bewohnern der reichen Länder? Es geht darum, Unrecht nicht erst dann zu bekämpfen, wenn es – wie in vielen Ländern Afrikas und Südamerikas buchstäblich lebensbedrohlich wird.



8. Langfristige Lösung: Die zinsfreie Wirtschaftsordnung.



Hierbei würde jede Art von „Belohnung“ für diejenigen abgeschafft, die ihr Geld dem Wirtschaftskreislauf entziehen. Damit aber nach wie vor ein Anreiz besteht, das Geld zu investieren und auszugeben wird, unterliegt das Geld einem Wertverlust („Schwundgeld“). Diese Lösung würde einer neuerlichen Fehlentwicklung vorbeugen. Selbst im Fall einer vollständigen Tilgung aller privaten und öffentlichen Schulden hätten wir nämlich in einigen Jahrzehnten wieder die gleiche Situation wie heute, sollte das Zinssystem nicht grundlegend verändert werden.



06. Mai 2009
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