Rikscha-Ambulanzen und Plumpsklos

Wie sich das Leben veränderte, wenn nichts Digitales mehr funktionierte

Ich schreibe diesen Text auf einer mechanischen Schreibmaschine, die ich auf dem Dachboden meines Onkels gefunden habe. Kein Mensch kann mir sagen, wann mein Computer wieder läuft. Seit einer Woche funktioniert so gut wie nichts mehr in der Stadt – und auch in den umliegenden Regionen herrscht Chaos. Alle Gerätschaften mit digitalen Komponenten sind ausgefallen. Warum? Unsere Bürgermeisterin stotterte bei einer Versammlung von defekten Komponenten und intensiven Prüfungen, die sie eingeleitet habe. Aber wie will sie prüfen, wenn nicht einmal mehr Telefone funktionieren und kaum noch jemand in seinem Büro ausharrt?


Die wüstesten Spekulationen sind im Umlauf. Eine Frau mit zwei Eimern, die mit mir und Dutzenden anderen an der Pumpe auf dem Kinderspielplatz anstand, um Wasser zu ergattern, sprach von einem ungewöhnlich starken Sonnensturm. Mein Friseur zitierte Nostradamus und neue Erkenntnissen über das Ende des Mayakalenders. Dagegen schwor mein Nachbar, einen Blitz gesehen haben, und raunte etwas von einer Magnetbombe. Sofort spürte ich den Impuls, im Internet zu recherchieren. Das aber ist ja genauso tot wie Radio und Fernseher.


Die Regale beim türkischen Gemüsehändler sind inzwischen so gut wie leer; er wird wohl morgen dicht machen wie fast alle anderen Läden. Die beiden Söhne hatten den Betrieb mit Handwaage und Rechenblock aufrecht erhalten. Die Leute raffen panikartig zusammen, was sie noch kriegen können. Auch ich habe ein paar Vorräte angelegt – ein paar Dosen Tomaten, Hirse, Bohnen, Reis, H-Milch, so viel wie ich für das Geld in meinem Portemonnaie noch kaufen konnte. Die Bankschalter haben geschlossen, die Automaten spucken keine Scheine mehr aus, mein Sparschwein ist leer. Ich hoffe inständig, dass das üppige Honorar, das ich im vergangenen Monat verdient habe, bald auf einem Bildschirm aufleuchtet und alles wieder ist wie früher. Die Kassiererinnen vom Supermarkt an der Ecke haben am zweiten Tag alle Milchprodukte und Tiefkühlwaren verschenkt. «Jeder darf sich bis zu fünf Packungen aussuchen», verkündeten sie. Doch plötzlich tauchte ein Trupp mit Lastenrädern auf, schubste die Wartenden beiseite und räumte den Laden leer. Mehrere Leute wurden hysterisch, es gab eine Schlägerei, ein Junge wurde verletzt. Jemand rannte zur Polizeiwache, aber als zwei Uniformierte eintrafen, war die Bande längst verschwunden. «Wir sind total unterbesetzt», klagten die Beamten; ihre pendelnden Kollegen hätten sie seit Tagen nicht mehr gesehen. «Wahrscheinlich graben die längst den englischen Rasen in ihren Vorgärten um und bereiten Gemüsebeete vor», feixte ein Glatzkopf. Auch die Polizisten konnten uns nicht sagen, wie gross das Gebiet ist, das vom Digitalausfall betroffen ist.  


An vielen Stellen sieht man jetzt eingeschlagene Fensterscheiben, manche Menschen verbarrikadieren sich in ihren Häusern und gehen nur noch mit Schaufeln oder gusseisernen Pfannen bewaffnet auf die Strasse. Überall hocken Leute und starren ungläubig auf ihre erloschenen Smartphones, ein Mädchen zeterte stundenlang: «Meine Facebook-Freunde, wo sind meine Facebook-Freunde, ich will meine Freunde wiederhaben.» Nachts ist die Stadt wie ausgestorben und stockfinster. Nie habe ich einen so wunderbaren Sternenhimmel gesehen. Allerdings haben sich einige Strassenkreuzungen zu Treffpunkten entwickelt, auf den Fahrbahnen brennen Lagerfeuer, die Leute machen Musik und tanzen. Busse und Autos fahren ja seit letzter Woche eh nicht mehr, nur ein paar Trabis und Oldtimer tuckern ab uns zu vorbei. Sogar eine Pferdekutsche habe ich schon gesehen.


Viele Leute sind jetzt mit dem Fahrrad unterwegs. Manche kramen den letzten Schrott aus ihren Kellern hervor und versuchen, ihn wieder fahrtüchtig zu machen. Mein Radhändler hat mir erzählt, dass seine Werkstatt völlig überfüllt sei. «Die Leute bringen Kerzen und grosse Taschenlampen mit, damit meine Mechaniker auch am Abend weiterarbeiten können», berichtete er.


Die Männer mit den strammen Waden, die normalerweise Touristen mit ihren Rikschas zu den Sehenswürdigkeiten gondeln, sind jetzt wohl grösstenteils im Krankentransport eingesetzt, hab ich gehört. Gestern kam ein historischer Zug aus dem Eisenbahnmuseum am Hauptbahnhof an und qualmte die ganze Halle voll. Ich war zufällig in der Nähe und habe mit dem Lokführer gesprochen. Er schimpfte, dass die Regierung ihn zwangsverpflichtet habe, Schulklassen aufs Land zu bringen, weil dort die Versorgungslage besser sei. «Aber auch in der Umgebung funktioniert rein gar nichts mehr», berichtete er. Ich hab ihn mit zu mir nach Hause genommen, weil er so verzweifelt aussah und nicht wusste, wo er schlafen sollte.


Als ich meinen letzten Tofu mit ihm teilte, fing er an zu weinen und erzählte, dass alle Schweine in der Mastanlage seines Schwagers erstickt seien – die Lüftungsanlage im Stall habe nicht mehr funktioniert. «Erwin hatte Angst, die Viecher rauszulassen: Sie hätten sich bestimmt alle sofort eine Lungenentzündung geholt oder einen Herzinfarkt erlitten», erzählte er. Nun aber seien alle tot und ein unerträglicher Verwesungsgeruch läge über dem Dorf.


Auf dem Platz vor dem Rathaus hat sich ein Markt entwickelt. Gaskartuschen für Campingkocher sind nur noch zu Mondpreisen zu bekommen. Zum Glück habe ich noch ein paar Flaschen Brennspiritus für meinen Trangia-Herd, den ich immer zum Zelten mitnehme. Vieles wird inzwischen getauscht – Babywindeln gegen Zigaretten, Schmuck gegen Trockenfrüchte. Heute fuhr ein Opa mit einem alten Trecker vor. Er hatte Möhren, Kartoffeln und Steckrüben geladen. Wer kein Geld mehr hatte, hat ihm alles Mögliche dafür angeboten. Auf dem Anhänger hab ich nachher einen Seesack, Edelpralinen, ein Thermometer und einen Hut gesehen. Einer Frau mit drei kleinen Kindern hat er aber auch einen Sack voll Lebensmittel geschenkt.


Die Gänge im Rathaus hängen voll mit schwarzen Brettern mit Gesuche und Angeboten, wo sich aber auch vielfältige Arbeitsgruppen organisieren. Mittags um 12 Uhr werden jetzt aus dem zweiten Stock des Rathauses Nachrichten mit dem Megafon verbreitet. Wer etwas mitzuteilen hat, kann vorher in den Bürgersaal kommen. Gestern hat eine Frau angekündigt, dass an einer Stadtwährung gearbeitet wird; jeder soll 200 Digitalfreie als Startkapital bekommen. Ich habe mich als Freiwillige gemeldet, hab ja jetzt Zeit. Die Scheine sollen wir aus buntem Kopierpapier herstellen. Die Zehner sind blau und bekommen einen Stempel aus dem Jugendamt, die Einer sind gelb und haben einen Aufdruck von der Autozulassungsstelle. Übermorgen wird die Verteilung beginnen. Weil die Daten über die Einwohner in den Tiefen der Computer verborgen sind, werden wir eine handschriftliche Liste führen müssen.


Immerhin haben wir im Rathaus auch abends Licht. Ein Techniker hat die Wechselrichter der Solaranlagen auf dem Dach abgeklemmt und Leitungen zu den Autobatterien gelegt, die viele Bürger vorbeigebracht haben. Auch ich habe das Ding gestern aus meinem Polo ausgebaut und im Trauzimmer abgestellt, das der Hausmeister zur Energiezentrale umfunktioniert hat. Der Gleichstrom aus den Batterien speist jetzt einige LED-Lampen, von denen der Techniker die Transformatoren abgebaut hat.


Damit Bewohner von Häusern mit eigenen Solaranlagen das nachmachen können, gibt es bald Workshops in der Volkshochschule. Zudem sollen Anleitungen für einfache Überlebenstechniken verfasst und verteilt werden. Heute wurden dafür schon drei Matrizendrucker aus dem Institut für Technikgeschichte geliefert. Vordringlich ist der Bau von Plumpsklos. Aber auch andere Fähigkeiten sind gefragt: Ein nahegelegener Grossviehbetrieb bietet Kost und Logis an für Menschen, die mindestens fünf Kühe am Tag melken können. Ein Mann, mit dem ich heute tausende von Scheinen gestempelt habe, meinte allerdings, dass die Euter moderner Kühe nicht mehr mit der Hand zu leeren seien.


Wie rasch sich das Leben verändert hat. Nur eine Woche ist es her, seit alles losging. Ich war damals gerade in meinem Sportstudio auf dem Laufband. Ich knallte gegen die Armatur, alles war dunkel, einige Leute kreischten. Ein paar Minuten später beleuchtete ein athletischer Mann mit einer Taschenlampe sein grinsendes Gesicht und schlug vor, zur Abwechslung mal draussen gemeinsam zu joggen. Aber wir wollten nicht. Da gäbe es ja keine Möglichkeit, den Kalorien- und Fettabbau zu messen, erklärten wir dem Sportsfreund. Ungeduscht gingen wir nach Hause. Niemand von uns ahnte, wie streng wir alle Bald riechen würden.  

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Annette Jensen lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Berlin.


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