Rojava-Situationsbericht: Bomben und Angriffe trotz Waffenruhe
Das kurdische multi-ethnische Autonomieexperiment Rojava steht in unmittelbarer Gefahr. Die Türkei bereitet sich auf einen Angriff auf die Grenzstadt Kobane vor und wird von der EU mit einer Millarde Euro unterstützt. Im Moment konzentrieren sich die Kämpfe auf eine Brücke über den Euphrat und einen Staudamm. Dagegen regen sich Proteste weltweit. Wir haben einige Meldungen zusammengefasst.
Am Dienstag protestierten Zehntausende Menschen in Kobane gegen den bevorstehenden Angriff auf ihr Land, berichtet unter anderem die Plattform RiseUp4Rojava. Einige Tage zuvor sagte die YPJ-Kommandeurin Rohilat Afrin:
So wie wir den IS in Kobane besiegt haben, werden wir auch die Türkei besiegen.
Seit Tagen mehren sich die Berichte, dass ein Grossangriff auf Kobane unmittelbar bevorsteht. Türkische Medien verkünden dies offen. Videos zeigen SNA-Konvois, die bereits mit Schlamm getarnt sind und sich auf der Westseite des Euphrat sammeln.
Kobane liegt an der syrisch-türkischen Grenze. Nur eine Grenzmauer und ein militärisch gesperrter Streifen trennen die Stadt von der Türkei. Das bedeutet, dass auch die Gefahr eines direkten, grenzüberschreitenden Angriffs besteht. In der letzten Woche hat die Türkei Kobane bombardiert und Militär entlang der Grenze mobilisiert.
Der Oberbefehlshaber der SDF, Mazlum Abdi, zeigte sich bereit, «eine entmilitarisierte Zone in der Stadt Kobane mit einer Neuverteilung der Sicherheitskräfte unter amerikanischer Aufsicht und Präsenz» vorzuschlagen, um «die Sicherheitsbedenken der Türkei auszuräumen und dauerhafte Stabilität zu gewährleisten».
Verhandlungen
Seit dem 9. Dezember laufen Verhandlungen zwischen den SDF, der SNA, der Türkei und den USA. Am 11. Dezember wurde ein Waffenstillstand am Tishrin-Damm und ein Rückzug aller Streitkräfte aus der Stadt Minbic vereinbart, aber die SNA brach diesen sofort und griff seitdem den Tishrin-Damm und die Qarqozak-Brücke an, über die die SNA den Euphrat in Richtung Kobane überqueren will.
Laut US-Aussenministerium wurde die Waffenruhe zwischen der SDF und der Türkei/SNA nun bis zum Ende der Woche verlängert. Der Militärrat der SDF in Manbij berichtet jedoch, dass ein weiterer Angriff der SNA nach Tagen ununterbrochener Konfrontation gestern zu zweistündigen Gefechten am Tishreen-Staudamm und der Qereqozak-Brücke geführt hat.
Alle Augen sind auf den Damm und die Brücke gerichtet. Im Fall eines Dammbruchs erhöht sich das Risiko einer grösseren humanitären Katastrophe noch weiter. Die SDF wehrten die Angriffe ab und die SNA erlitt über 230 Opfer. Aufgrund der Lufthoheit der türkischen Luftwaffe, die die Angriffe der SNA abdeckt, sind die Verteidigungslinien flexibel und die Methoden der Selbstverteidigungskräfte vielfältig. Auf freiem Feld operieren sie in kleinen Teams mit Guerilla-Taktiken. Die Kriegsführung entspricht daher nicht der klassischen Kriegsführung mit statischen Frontlinien.
Ob der Krieg weiter eskaliert, hängt auch von den USA ab. Während die USA im Rahmen der Anti-IS-Koalition militärisch mit den SDF kooperieren, kontrollieren die USA grosse Teile des Luftraums über Nordsyrien und halten den Luftraum seit Wochen für die türkische Luftwaffe offen. Sie ermöglichten auch die Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê im Jahr 2019.
Ob die Türkei selbst Rojava mit Bodentruppen angreifen wird, hängt davon ab, ob die USA den Weg dafür freimachen. Die USA versuchen derzeit, der Welt zu zeigen, dass sie immer noch auf der Seite der SDF stehen. US-Militärangehörige haben sich öffentlich in Kobane positioniert, wo sie immer noch präsent sind. Die Situation könnte morgen schon wieder ganz anders aussehen. Spätestens nach Trumps Amtseinführung am 20. Januar 2025 wird sich die Frage stellen, ob das US-Militär in Syrien bleibt.
Erdogan kündigte an, dass die Türkei, wenn es der Wunsch der neuen syrischen Regierung sei, diese militärisch ausbilden werde. Inwieweit sich die HTS in Zukunft unabhängiger von der Türkei positionieren wird, ist noch unklar. Wir wissen aber, dass das «neue Syrien» unter dem Einfluss der Türkei und Staaten wie Katar stehen wird.
Im andauernden Konflikt produzieren internationale Medien ständig Falschmeldungen. Türkische Medien verbreiten Videos von Folter durch die SDF, und auch der in Katar ansässige TV-Sender Al-Jazeera spiegelt die Interessen der jeweiligen Staaten wider. «Desinformation» ist daher eine wichtige Waffe im andauernden Krieg.
Zahlreiche europäische Länder haben zudem angekündigt, syrische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen abzuschieben, jetzt, wo Assad gefallen ist. Die politische Legitimierung der neuen Regierung in Damaskus scheint also gesichert. Inwieweit der Autonomen Verwaltung von Rojava Autonomie gewährt wird, ist sehr zweifelhaft. Die HTS hat zwar angekündigt, Minderheiten zu tolerieren, will aber alles der zentralen Staatsmacht unterordnen.
Die EU finanziert derweil die aggressive Politik der Türkei: Die Europäische Kommission hat Ankara am 18. Dezember zusätzlich 1 Milliarde Euro zur Unterstützung bei der «Bewältigung der syrischen Flüchtlingskrise» zur Verfügung gestellt.
Es gibt die Gefahr einer absoluten Eskalation an allen Fronten, aber auch eine Chance auf eine friedliche Lösung und ein demokratischeres Syrien. Am vergangenen Wochenende fanden in über 50 Städten Demonstrationen und Aktionen statt, die zeigten, dass Menschen auf der ganzen Welt an der Seite von Rojava stehen.
Die Revolution von Rojava ist auch eine kulturelle Revolution. Kultur ist das, was eine Gesellschaft am Leben erhält, deshalb ist einer der tiefgreifendsten Angriffe des Systems auf die Kultur einer Gesellschaft gerichtet. Die Kultur der Völker, die Widerstand leisten, zu bewahren und zu verbreiten, gehört zur Verantwortung von Künstler auf der ganzen Welt. Riseup4Rojava ruft alle Künstler auf, revolutionäre Kunst in Form von Graffiti, Gemälden, Musik, illustrierten Postern, Skulpturen usw. zu schaffen. Senden Sie Ihre Kunst an: [email protected]
Abkürzungen:
YPJ: die «Frauenverteidigungseinheiten», Rojavas Selbstverteidigungs-Armee
SNA: Die Syrische Nationale Armee ist eine von der Türkei im Syrischen Bürgerkrieg unterstützte, bewaffnete Miliz
SDF: Die Demokratischen Kräfte Syriens sind ein 2015 gebildetes Militärbündnis im Bürgerkrieg in Syrien, das angeführt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten das im Nord- und Ostsyrien liegende Autonomiegebiet verteidigt.
HTS: Haiʾat Tahrir asch-Scham ist ein islamistisches Bündnis verschiedener Milizen, gegründet 2017, das aktuell die Regierung Syriens übernommen hat.
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