Tänzer zwischen Himmel und Hölle
Als Kind in einer Sekte missbraucht, hat Ramón Gartmann die Schatten überwunden und hilft nun anderen, ihr Leben zu meistern.
«Wir leben im Paradies», sagt Ramón Gartmann. «Schau mal hin, geh nach draussen in den Wald und nimm dir Zeit zum Entdecken ...» Blauäugigkeit kann man dem 36-jährigen Familienvater nicht unterstellen. So jung er auch ist, hatte er doch schon unsäglich viel Leid zu bewältigen. Seine Erfahrungen gibt er seit einigen Jahren als Coach und Seelenbegleiter weiter: «Ich sehe mich als eine Art von Tourenführer durch die verschlungenen Landschaften des Unbewussten.»
«Schon früh hatte ich besondere Wahrnehmungen. So sah ich physisch und mit dem inneren Auge die Energiefelder der Menschen, nahm Farben und Melodien wahr, träumte intensiv. Immer wieder nahm ich dabei auch ein lichtvolles Wesen wahr, das mir vieles von dieser Welt erklärte und zu einer Art von Begleiter wurde. »
Hölle auf Erden
Und das war nötig. Der kleine Ramón wuchs in einer streng religiösen Sekte auf. Die Eltern hatten kein Verständnis für seine Wahrnehmungen, vielmehr befürchteten sie, Dämonen würden sie ihm einflüstern. Er lernte zu schweigen. Der eigentliche Dämon aber war sein Vater. Mit anderen Sektenmitgliedern missbrauchte er seinen eigenen Sohn über viele Jahre. «Als ob dieser von Problemen und Ängsten geplagte Mann alles Lichtvolle in mir hätte ersticken wollen ...», sagt Ramón Gartmann.
Am gemeinsamen Putztag in der Sekten-Kirche polierten der 8-jährige Ramón und sein älterer Bruder die Dachfenster von aussen. Da trat er über den Dachrand und stürzte zwölf Meter in die Tiefe. Schwer verletzt rang er um sein Leben. «Schwerelos gelangte ich in einen Tunnel, aus dem mir ein unermesslich schönes Licht entgegenströmte. Noch nie habe ich etwas Schöneres erfahren, ich gab mich total hin ...» Bis er seinen Begleiter wahrnahm, der ihn liebevoll an seine Aufgabe auf Erden erinnerte. Über seinem Körper schwebend, fühlte er den Schmerz und das Leiden seiner Mutter und das Bemühen der Sanitäter, ihn zur retten. «Ich wollte helfen und von diesem Licht auf die Erde bringen. Ich wollte heilen.» Die Rückkehr und Genesung dauerte lange.
Dann starb sein Vater. Die Mutter heiratete wieder, die Familie zog weiter. «Mit der Pubertät begann ich mich mehr und mehr von der Sekte zu distanzieren und führte als kiffender Jugendlicher ein Doppelleben, bis ich entdeckte, dass ich ja frei war, zu gehen.»
Mit siebzehn trat er aus der Sekte aus, wurde geächtet, doch er blieb bei seiner Entscheidung. Leicht war es nicht: «Ich zog nach St. Gallen, lebte auf der Strasse, experimentierte mit Drogen aller Art, bis ein weiterer krasser Absturz folgte.» Doch stets wusste er, dass diese Art von Betäubung nicht zu seinen Zielen von Licht und Kraft passte. Er zog sich selbst aus dem Sumpf. «Ich wusste, es gibt zwei Wege: Entweder bleibst du Opfer, oder du findest zu deiner Kraft und lebst sie.»
Heil dich zuerst selber
«Die Arbeit in einer Fabrik ermöglichte mir erste Reisen nach Südamerika. Ganz klar spürte ich in mir das Drängen, Menschen zu heilen, doch gleichzeitig kam der Impuls: Heile dich zuerst selber». Ramón Gartmann zog sich zurück, streifte ein Jahr quer durch die Schweiz und lebte in der Wildnis. Auch nach seiner Rückkehr in die Zivilisation verbrachte er viel Zeit damit, die Flut seiner Wahrnehmungen zu ordnen und seine unaufgearbeiteten Prägungen zu klären. Er bildete sich weiter in Reiki, Radioästhesie, Atemtherapie, erforschte Zusammenhänge der Evolutionsbiologie, Physik und Quantenphysik, vertiefte seine Meditationspraxis. «Heute kann ich innere Schichten des Unterbewusstseins wahrnehmen, die gelebten Geschichten darin erkennen und den emotionalen und körperlichen Zustand eines Menschen erfassen.»
Vor acht Jahren kam Selina in sein Leben, seine grosse Liebe und Seelengefährtin. Lua (7) und Moa (4) kamen ohne Hebamme zur Welt. «Das mitzuerleben war etwas vom Berührendsten meines Lebens.» Ihre Kinder unterrichten sie selbst, so waren ausgedehnte Reisen bis in die Ukraine und nach Bali möglich. Sein Coaching-Angebot stellte Gartmann komplett auf Online-Sitzungen um, damit er überall auf der Welt arbeiten konnte.
Wurzeln finden
«Spiritualität allein bringt nichts, die wirkliche Arbeit ist es, Brücken zu bauen, die die gängige Polarisierung zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel auflösen und zu einem ganzheitlichen Denken führen.» Auch unsere verdrängten und negativen Anteile hätten ihren Sinn. «Man kann aus allem eine Stärke machen.» Dafür sei es nötig, durch die unangenehmen Gefühle hindurchzugehen: «Traumatisierte Anteile gehören zur Persönlichkeit. Sie anzunehmen, kann viel Kraft freisetzen. Heilen aber kann sich schliesslich nur jeder selbst ...»
Inzwischen lebt die Familie im Berner Oberland mit prächtigem Blick über die Berge und den Thunersee. Ein Jurte ist geplant – der Boden soll spürbar nahe bleiben, denn darum gehe es doch: «Zuhause zu sein auf dieser Erde, mit Körper, Geist und Seele.»
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Um dem Hass nicht Vorschub zu leisten, will Ramón Gartmann den Namen der Sekte nicht genannt haben.
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