Dem eindimensionalen Konzept «Zeit» stellt der Autor die «Tiefenzeit» entgegen – denn alles, was war, ist jetzt noch in mir. Daraus ergibt sich eine ganz andere Haltung für unseren Aktivismus. Die Samstagskolumne.

Ausschnitt aus: «Die Beständigkeit der Erinnerung» von Salvador Dalí

Alle kennen Eckart Tolles «Jetzt – die Kraft der Gegenwart» oder wissen wenigsten, was es heisst, ganz entspannt im Hier & Jetzt zu sein. Ram Das’ «Be here now» war ein prägendes Mantra der Hippie-Bewegung. Eckart Tolles «The Power of Now» eine ikonische Formel aller, die zu wissen glaubten, worum es in der Spiritualität geht. Auch mich haben diese Formeln geprägt. Sogar so weit, dass ich damals alle Dokumente meiner Vergangenheit entsorgen wollte und jedwede Planung von Zukunft nur noch lächerlich fand.

Kein Entrinnen

Es dauerte, bis mir bewusst wurde, dass auch alles Erinnern und Planen in der Gegenwart geschieht, niemand kann dem entkommen. Auch das Verleugnen von Vergangenheit und das Ignorieren von Zukunftsfolgen geschehen in der ewigen Gegenwart. Insofern hat die Vorstellung eines Zeitstrahls seine Berechtigung, der von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft verläuft. 

Wir stehen in der Mitte dieses Strahls, im Jetzt – hinter uns die Vergangenheit, vor uns die vielen möglichen Zukünfte. Insofern ist es eher ein Baum mit einem Stamm und vielen Zweigen – oder ein Fächer mit Griff: hinter uns nur eine Vergangenheit, die sich allerdings sehr verschieden darstellen lässt; vor uns so viele mögliche Zukünfte, je nachdem, was wir jetzt tun. 

 

Zeit als Punkt, Linie, Raum

Schon während meiner ersten Meditationserfahrungen kam mir die Zeit nicht wie ein Punkt oder eine Linie vor, sondern eher wie ein Raum, der sich in alle Richtungen hinaus weitet. Oder wie eine pulsierende Qualle, deren Haut aus meinen Ich-Grenzen besteh. Rundum das Meer, das alles enthält, und alles ausserhalb des Ich und des Jetzt und Hier bin ich ebenso. Ich bin auch das «Dann und Dort» und alles, was war. Alles, was einmal war, ist noch in mir, und alles, was sein kann, ist schon in mir angelegt. 

Joanna Macy nennt solch ein Lebensgefühl «Deep Time» – Tiefenzeit. So wie wir alles, was räumlich um uns ist, auch sind, so sind wir, was war, noch immer, und was sein kann, das sind wir schon jetzt. Die Idee, bei unserem Handeln nicht nur zu berücksichtigen, wie unsere Kinder davon betroffen sein werden, sondern sieben Generationen im Voraus, ist eine Idee der Tiefenzeit. 

 

Raumgefühl, Zeitgefühl

Mein Mitgefühl dehnt sich auf alle aus, die jetzt leiden. Mein Wunsch, dass sie glücklich sein mögen, dehnt sich aus auf alle Lebewesen der Welt. So wie mein Raumgefühl sich empathisch ausdehnen kann, dass es alle und alles umfasst… – so kann auch mein Zeitgefühl alles umfassen; alles, was hinter mir liegt ebenso wie alles, was noch vor mir liegt und aus mir jetzt hervorquellen kann. Alles das bin ich. Ich bin auch meine Vergangenheit und meine Zukunft. Ich bin nicht nur das Jetzt, sondern auch das Damals und Dann, ebenso wie ich nicht nur das Hier bin, sondern auch das Dort.

Nun haben auf einmal meine Eltern und Grosseltern wieder eine Bedeutung für mich, die Herkunftsfamilie, aus deren Umklammerung mich zu befreien, mich so viel Kraft gekostet hat. Die ganze Ahnenreihe bis in die Steinzeit und noch weiter ist noch in mir. Bis zu den Primaten und dem Entstehen des Lebens auf der Erde. Und vor mir sind nicht nur meine Kinder und die Generationen der nach mir Kommenden, sondern alle Zivilisationen, die nach der Jetztzeit noch kommen könnten. 

Werden sie noch Erdöl verbrennen? Wie werden sie mit der Erosion der Behälter zurechtkommen, in denen wir Atommüll gelagert haben? Wie sehr wird die Biodiversität im Anthropozän noch schrumpfen, bis wir Menschen wirklich gemerkt haben, dass wir Teil dieses Biotops sind?

So kann ich ohne Angst leben, dass irgendetwas aufhört, was ich doch behalten will, denn es wandelt sich ja nur, und ich bin ein Teil davon. 

Tun, was zu tun ist

Mich erfüllt die Tiefenzeit mit einem Daseinsgefühl, das ohne jegliche Eile oder sonst einen Druck mein Hiersein betont. Alles, was war, ist noch immer da, auch wenn die Formen, in denen es auftrat, sich geändert haben und noch weiter ändern werden. Alles, was sein kann, ist jetzt schon angelegt. Wir können das Künftige aus dem Jetzt ausschlüpfen sehen wie einen Schmetterling aus dem Kokon der Gegenwart – und sind währenddessen Teil davon, jetzt und für immer. 

So kann ich ohne Angst leben, dass irgendetwas aufhört, was ich doch behalten will, denn es wandelt sich ja nur, und ich bin ein Teil davon. Mein individuelles Leben ist eine Welle auf dem Ozean – eine Welle aus Wasser, das nicht vergeht, auch wenn der Wind aufhört und sich dort, wo ich war, aus der Meeresoberfläche bald nichts mehr aufbäumt. Die Welle, die ich war, hat ihre Energie an andere Wellen weitergegeben.

Wenn ich die Tiefenzeit spüre, fühle ich mich im Universum geborgen. In diese Tiefe von Raum und Zeit eingebettet, ist mir nichts mehr fremd. Auch Aktivist zu sein, ist dann nichts Anstrengendes mehr. Ich lasse mich dabei einfach schieben von den Kräften, die zugleich um mich und in mir sind, hin zu dem, was zu tun ist. 


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