Von Hand
Manchmal, unterwegs, möchten wir etwas schreiben, doch wir haben den PC nicht mit dabei. Das einzige, was uns bleibt, ist das Schreiben von Hand. Aber können wir das noch? - Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Als ich im Hauptbahnhof umsteigen musste, den Anschlusszug knapp verpasste und auf der Anzeigetafel erfuhr, dass der nächste Zug verspätet eintreffen würde, fand ich das ärgerlich. Denn vor mir standen 40 Minuten Wartezeit, und ich hätte doch längst zu Hause sein müssen, um einen Text zu vollenden, der dringend vollendet sein wollte. Aber ich musste mich den Umständen beugen. Ich verzog mich in ein Café, bestellte einen schaumgekrönten Cappuccino und tat, was alle Menschen tun, nachdem sie ein Café betreten und sich hingesetzt haben: Ich griff zum iPhone und war gerettet.
Eine Weile tippte ich darauf herum, checkte die Chats, die Likes und die Mails, konsultierte das Weltgeschehen und das Wetter, blickte zwischendurch hoch und liess meine Augen wandern, liess mir von ihnen das wirkliche Leben zeigen, die Inneneinrichtung der Cafébar, die anderen Gäste – die meisten vertieft, so wie ich, in ihr kleines elektronisches Zaubergerät – und schliesslich die Kellnerin, die mich beschäftigte, weil ihr Blick sich so völlig verlor im Strom der Passanten da draussen, und weil ich nicht wusste, ob sie nur müde oder unglücklich war.
Dann kehrte ich wieder zum Bildschirm zurück, obwohl ich, wie meistens, eigentlich gar nicht dahin zurückkehren wollte. Eigentlich wollte ich gar nichts lesen. Ich wollte mir nicht bloss die Zeit vertreiben, die so quälend voranschlich. Ich wollte schreiben.
Ich könnte den Text, überlegte ich mir, auf dem iPhone öffnen. Ich könnte das schon Geschriebene korrigieren und danach weiterschreiben. Doch im gleichen Augenblick war mir klar, dass sich ein Telefon dafür nicht eignet. Für unterwegs brauchte ich etwas Grösseres. Mit richtiger Tastatur und mit Bildschirm.
Immer noch 30 Minuten, zeigte mir der Blick auf die Uhr im Café. Dreissig lange Minuten und ich konnte nichts tun.
Auch der Kaffee war schon leergetrunken. Wieder griff ich zu meinem Helferchen in der Not, das neben der Kaffeetasse bereitlag. Alles ist gut, beruhigte es mich. Ich bin für dich da! Du bist nie allein!
Ich könnte mit Julia telefonieren, beschloss ich, und ihr erzählen, dass ich mich gerade sehr langweilte. Aber das wollte ich ihr nicht antun. Ich legte das Telefon wieder hin. Ich liess es los, als würde es mich verderben. Als ob es der Teufel erfunden hätte.
Da fällt mir ein - ja, warum nicht: Ich könnte versuchen, von Hand zu schreiben. Ich komme darauf, als wäre es ein sehr ungewöhnliche, weit entfernte und etwas verrückte Idee. Und ich stelle auch sogleich fest, dass ich gar nicht die Möglichkeit dazu habe. Nirgends in den Untiefen meiner Handtasche finde ich etwas zum Schreiben.
Nun bin auch ich schon so weit, denke ich mit Betroffenheit. Nicht einmal einen Bleistift habe ich noch dabei. Ich bin der digitalen Welt völlig ausgeliefert. Wie alle andern.
Ich winke die Kellnerin zu mir und bitte sie, ganz bescheiden, um einen Bleistift. Auch Notizpapier habe ich keines. Ich bitte sie darum. Irgendeinen Zettel, den sie nicht mehr benötigt. Die junge Frau erwacht für einen Moment aus ihrer Abwesenheit und schaut mich fast schon verwundert an. Um so etwas Altertümliches ist sie schon lange nicht mehr gebeten worden. Dann bringt sie mir den gewünschten Bleistift und ein paar Flyer mit weisser Rückseite.
«Geht das so?» fragt sie mich und ich nicke erfreut. Ich nehme den Bleistift in meine Hand wie eine Kostbarkeit – und erinnere mich. Es gab eine Zeit, als ich in einem Café sitzend, so wie jetzt, meine Gedanken in ein Büchlein notierte. Zuhause stand meine Schreibmaschine. Unterwegs, auf Reisen, im Zug, in Hotels schrieb ich von Hand. Ich liebte es, so zu schreiben.
Ich kannte nichts anderes.
Jetzt sitze ich wieder in einem Café und schreibe von Hand. Doch es fühlt sich merkwürdig an. Der Bleistift gehört nicht zu mir – nicht nur, weil er nicht mir gehört. Er sperrt sich gegen den Fluss der Gedanken, in den ich eintauchen möchte. Schon nach wenigen Sätzen unterbreche ich meinen Schreibversuch. Ich blicke auf meine Schrift, und was sehe ich? Unbeholfene, krumme, missgebildete Wörter aus der Hand eines Schreibenden, der von Hand nicht mehr schreiben kann. Ich habe es wirklich verlernt.
Um mein Soll zu erfüllen, schreibe ich weiter, solange noch Zeit bleibt. Warum freut es mich nicht, wieder einmal von Hand zu schreiben? Warum empfinde ich keine Wehmut, dass ich es nie mehr tue? Das vollgekritzelte Blatt zeigt dem Betrachtenden eine Schrift, die mit Widerwillen geschrieben wurde. Wie nie zuvor wird mir klar, dass die Zeit des Bleistifts vorbei ist. Ich möchte nie wieder von Hand schreiben müssen.
Meine Gedanken sind schneller als meine Handschrift.
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